Full text: Lateinische Paläographie (Band 1, Abtlg. 1)

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Zweiter Hauptabschnitt: Entwiekelung der lateinischen Schrift. Erstes Kap.: Einleitung. 41 
kalligraphischen Buchschrift, bildet sich aber aus der Unziale noch eine zweite Schrift- 
arb aus, bei der die Formumwandlung sehr merklich ist, indem unwesentliche Teile der 
Unzialformen verkümmern oder ganz verschwinden, und das Vierlinienschema streng 
durchgeführt erscheint, so daB der ganze Buchstabe oder sein Hauptbestandteil zwischen 
den Mittellinien Platz findet, der Raum über bzw. unter denselben durch die nach oben 
oder unten verlängerten Buchstabenschäfte ausgefüllt wird. Zu diesen tritt dann als 
drittes wesentliches Merkmal die Verbindung der einzelnen Buchstaben untereinander, 
also jenes Moment, das wir schon bei der Majuskel kennen gelernt haben; eben danach 
erhält diese Schriftart ihren Namen: Minuskelkursive. 
Halbunziale und Minuskelkursive sind die zwei Formen, die weitere Schrift- 
bildungen ermöglicht haben. Die letztere aber nur noch in beschránktem Mafe, indem 
sie das Muster wurde für die Schriften der auf rómischem Boden angesiedelten Völker, 
die es zur Niederschrift literarischer Denkmäler gebracht haben: in Spanien, Italien 
und Frankreich. Sie heifen gemeinsam Nationalschriften, haben als Tochterschriften 
einer Mutter gemeinsame Züge, aber auch Verschiedenheiten und Eigentümlichkeiten. 
Aus der Halbunziale dagegen entwickelt sich einerseits eine selbstándige vierte National- 
schrift, die irisch-angelsáchsische oder insulare Schrift, anderseits aber die karolingische 
Minuskel. Diese karolingische Minuskel entwickelt sich nun in mehrhundertjähriger 
Herrschaft zu jenem prächtigen und kräftigen Ast, der allein noch weiter getrieben 
hat, der die Nationalschriften allmählich verdrängte und die Schriftformen des späteren 
Mittelalters bis in die Neuzeit hinein erzeugte. 
Die wichtigste Phase in dieser weiteren Entwicklung bedeutet das Aufkommen 
der sogenannten gotischen Minuskel, deren charakteristisches Kennzeichen in der 
Brechung der früher geraden oder gebogenen Schäfte liegt: m 111 0 bh. Es ist eine aus- 
gesprochene kalligraphische Schrift, der die Möglichkeit der Buchstabenverbindung 
fast ganz abgeht, so daß sich in gewissem Sinne als Ersatz dafür eine eigenartige Buch- 
stabenanlehnung ausbildet. Allein das Bedürfnis einer kursiven Schrift stellte sich 
auch hier wieder ein und modelte% zu A, P zu4,X zurund 4^, schuf mit einem Wort 
aus der gotischen unsere moderne deutsche Schreibschrift. Daneben besitzen wir nun 
heute noch eine zweite sogenannte lateinische Schreibschrift, und beide werden nicht 
selten in einen nationalen Gegensatz zueinander gestellt, als feindliche Brüder be- 
trachtet. Die Ausbildung der Lateinschrift hängt mit der humanistischen literarischen 
Tätigkeit zusammen. Die Humanisten gingen in ihrem Suchen und Forschen nach 
besseren Texten der klassischen Schriftsteller auf ältere Handschriften zurück und 
stießen dabei auf die Prachtleistungen der karolingischen Minuskel in ihrer Entwicklung 
vom. 10. bis 12. Jahrhundert. Mit den Texten dieser Handschriften übernahmen sie 
dann auch die Schriftform, so daf sich im 15. und 16. Jahrhundert unter humanistischem 
Einflu& eine Regeneration der Minuskel des 10. bis 19. Jahrhunderts ausbildete, jener 
Schónen, runden, klaren, von gotischen Ecken und Schnórkeln noch freien Schrift; 
unsere lateinische Schreibschrift stellt nur die kursive, die Buchstaben untereinander 
verbindende Weiterbildung dar, indem aus a — a, aus + = ?, aus p — ft usw. entstand. 
Wir sehen somit, ob lateinische, ob deutsche Schrift — beide gehen sie zurück 
auf die karolingische Minuskel, die erstere direkt, allerdings vermittelt durch die 
regenerierte Humanistenschrift, die letztere indirekt durch das Bindeglied der gotischen 
Minuskel. Ein nationaler Unterschied liegt darin keineswegs, wenigstens nicht von 
Anbeginn und nicht in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit.) Erst sehr spát wurde 
die gotische Schrift auf Deutschland beschränkt, während alle anderen Nationen 
allmählich der lateinischen Schrift den Vorzug gaben. 
1) Vgl. auch Vorl. u. Abh. von L. TravsE II, 7; dann STEFFENS T. 28, Suppl. (47). 
 
	        
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