Full text: Lateinische Paläographie (Band 1, Abtlg. 1)

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Zweit. Hauptabschn.: Entwickelung d. lat. Schrift. Zweit. Kap.: Die lat. Majuskelschrift usw. 45 
8 2. Ältere römische Kursive oder Kapitalkursive, 
Die Anwendung der epigraphischen Kapitale bei der Abfassung von Schrift- 
werken, für die ob ihres Umfanges, ihres privaten Charakters oder des geringeren 
Wertes, den man auf ihre Erhaltung legte, nicht Stein und Erz, sondern andere für 
den praktischen Gebrauch geeignetere Schreibstoffe verwendet wurden, bedeutet 
die erste große Entwicklungsphase in der lateinischen Schrift. Sie hat sich vollzogen 
in einer Zeit, aus der uns auch nicht eine Spur solcher Schriftdenkmäler erhalten ist. 
Einblick in diesen Prozeß gewinnen wir erst, da er bereits mehrere Jahrhunderte ge- 
dauert haben mag; wir haben aber Grund anzunehmen, daß wir ihn auch da noch in 
seinen Grundformen erkennen können. 
Die Schreibstoffe, die hier in Betracht kommen, sind Papyrus, Wachs- und 
Holztafeln, Lehm und Ton in ungebranntem Zustande, und die ältesten datierten 
oder datierbaren Schriftproben bieten uns Papyrusfragmente, die aus dem Beginne 
unserer Zeitrechnung stammen. Seit langem bekannt ist das Fragment aus dem „Carmen 
de bello Actiaco“ aus den Papyri von Herculaneum stammend und in die Zeit von 
31 v. bis 79 n. Chr. gehörig.!) Fast gleichalterig ist das Brieffragment aus der Sammlung 
Erzherzog Rainer vom Jahre (21) 17—14 v. Chr.?) Sachlich repräsentieren die beiden 
Stücke zwei Gruppen von Schriftwerken: die literarische Arbeit für Zwecke des Buch- 
marktes und die schriftliche Alltagsproduktion, wie sie in Korrespondenzen, Rechnungen, 
Quittungen, privaten Geschäftsstücken niedergelegt erscheint. Beide Blätter zeigen 
uns eine Schrift, die der epigraphischen Kapitale zwar nahesteht, aber durch die Freiheit 
und eine gewisse Flüchtigkeit des Schriftzuges auf das Auge einen wesentlich anderen 
Eindruck macht.?) Jeder Buchstabe steht wohl noch selbständig da, die Buchstaben 
haben im wesentlichen die gleiche Höhe, sie bestehen noch aus den nämlichen Teilen 
wie dort: das À aus drei Strichen, B aus Schaft und zwei Bogen, X aus Schaft und drei 
Balken, Q aus geschlossenem Bogen und Cauda usw.; anderseits aber zeigt sowohl der 
Gesamteindruck wie die Betrachtung im einzelnen, daß schon in diesen ältesten Bei- 
spielen von Anwendung der Kapitale auf Papyrus die Elemente zur Umgestaltung 
der Schrift liegen, die Wandlung sich bereits vorbereitet. Nicht von der Denkmal- 
schrift, sondern von der literarischen Schrift im weitesten Sinne des Wortes ist dieser 
Prozeß ausgegangen. 
Dabei kommt es nicht so sehr auf den im ganzen zarteren Zug der Schrift, die 
unauffälligere Unterscheidung zwischen Haar- und Schattenstrichen, sondern auf die 
Formung der einzelnen Buchstaben und ihrer Bestandteile an. Eine allgemeine Wahr- 
nehmung scheint von besonderer Wichtigkeit zu sein, nämlich die, daß das Prinzip 
der Quadratform der Buchstaben aufgegeben wird. Die Buchstaben entwickeln sich in 
ihrer Breiteausdehnung ganz verschieden; einige, und zwar diejenigen, in denen schräge 
Linien vorkommen, verbreitern sich (A, N, M, V), die Balken- oder Schaftbuchstaben 
(F, F, L, T und auch S kónnte man dazu rechnen) werden schmäler, offenbar weil beim 
Ziehen schräger Linien der Schreibstoff weniger Hindernisse bietet als bei geraden 
Linien. Das hat denn unmittelbar zur Folge, daß auch die geraden Striche, wo immer 
es leicht möglich ist, sich schräg stellen, sowohl die senkrechten (M), als die wage- 
rechten (£), und daß man auch den Rundungen eine schräge Lage gibt (©). 
1) Von diesem Fragment, das mit zu den um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Herculaneum 
ausgegrabenen Papyrusrollen gehört, finden sich in den paläographischen Sammlungen verschiedene 
Faksimiles: so bei ZAnc.-WarTTt. T. 3, bei ARNDT-TANGL T. 31 b, STEFFENS T. 4 (3), WEssELY T. IL, 
Nr. 2. Während die Schrift in den erstgenannten Sammlungen als ,Kapitale" bezeichnet wird, 
nennt sie WzssELY ,Uncoiale". 2) WzssELY T. L Nr. 4. 
3) Eine vollständige Übersicht des Materials bietet V. FEpERrcL, Esempi di corsiva antica 
dal secolo L. dell era moderna al IV. raccolti ed illustrati, Roma [1908], mit 36 Tafeln. 
 
	        
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