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Zweiter Hauptabs chn.: Entwickelung der lat. Schrift. Drittes Kap.: Die Buchschriften usw. 55
Gruppe des 6. Jahrhunderts überwiegen noch die Merkmale der reineren Unziale;
noch werden die Rundungen schón gemacht; der gerade erste Schaft von M, auf
den schon PAorr!) als einen Beweis hóheren Alters hingewiesen hat, zeigt sich fast in
allen Stücken. Doch erfährt man anderseits aus den Erläuterungen, daß in den Hand-
schriften Lagen von feinem und roher bearbeitetem Pergament wechseln, Kürzungen
und Ligaturen sich häufen, obwohl hierbei die Individualität der Schreiber wesentlich
mitspielt.?)
Die Bibel- und Evangelienhandschriften in Unziale nahmen oftmals den Charakter
von Prachthandschriften an, in denen mit Gold- und Silberfarbe auf Purpurpergament
geschrieben wurde, und zeigen eine derart kalligraphische Ausgestaltung der Schrift,
daß die Zeitbestimmung ungemein erschwert wird. So galt beispielsweise die Wiener
Handschrift des Lukas- und Markusevangeliums, Hofbibl. Nr. 1235 [nr. 372], die auf
139 purpurnen Pergamentblättern mit Silbertinte geschrieben ist, früher als dem 7.,
später als dem 6. Jahrhundert angehörig, während WATTENBACH sie in noch frühere
Zeit, also wohl ins 5. Jahrhundert setzen möchte.?) Die Mehrzahl dieser Prachtdenk-
mäler — die Handschrift von St. Germain in Silber und Gold auf Purpur [nr. 202],
das Fragment eines Evangeliars im Prager Domschatz [nr. 37]) der Stockholmer
Codex aureus, die Hamiltonsche Evangelienhandschrift [nr. 162])) — werden als Er-
zeugnisse italischer (römischer) Schreibkunst des 6. oder 7. Jahrhunderts angesehen.
In eine noch jüngere Periode, in die Wende des 7. und 8. Jahrhunderts gehört die
berühmte Amiatibibel, heute in der Laurentiana in Florenz [nr. 44], geschrieben von
einem. italienischen Schreiber im englischen Kloster Tarrow oder Wearmouth, deren
Entstehungszeit und Geschichte DE Rossis glänzende Untersuchungen klargelegt
haben.) Mit dieser in Schrift verwandt ist das Evangeliar Burkhards, heute in Würz-
burg [nr. 384], nach CHROUST aber in einem englischen Kloster geschrieben’.)
Neben diesen Prachtcodices zeigen andere, die gleichfalls ins 7. und 8. Jahr-
hundert gehóren und rómischer Herkunft sind, einen sichtlichen Rückgang. Die Buch-
staben werden plump, die Schäfte sind nicht mehr liniengerade, die Rundungen werden
Krümmungen, sind ungleichmäBig und unschôn, wie dies bei der Würzburger Evangelien-
handschrift wahrzunehmen ist.) Hier dringen denn auch schon Kürzungen ein, die
bis nun ungewôhnlich waren (QU M für quoniam, NTI für nostri), neben dem geraden
Kürzungsstrich mit oder ohne Punkt wird ein s-fórmiges Hükchen angewandt; Buch-
stabenligaturen sind zahlreich, Interpunktion und Auseinanderhalten der Sätze und
Satzglieder durch Sperrung beginnt sich kenntlich zu machen. Ein Beispiel von flüch-
tiger Unziale des 8. Jahrhunderts zeigt die Handschrift des Liber pontificalis von
Lucca®): unregelmäßige Buchstabenformen, Minuskellettern, zahlreiche Kürzungen
charakterisieren die späte Zeit.
1) Vgl. PAOLI-LOHMEYER, GrundriB S. 9, Anm. 3.
2) Vgl. die Beschreibung der Hs. Priscillian in Unc. saec. VI von Cugovsr, Mon. pal. V, 1.
3) JBG. 1885 IL, 305. 4) Faksimile bei Zawa.-Warr. T. 36.
5) Wegen der Stockholmer Hs. vgl. T. BELSHEIM, Codex aureus sive quatuor evangelia ante
Hieronymum latine translata (Christiania 1878). B. vermutet, daB die Hs. in Bobbio bald nach
610 geschrieben sein dürfte (bei TRAUBE-LEHMANN fehlt dieses Stück); betreff der zweiten vgl. W.
WaTTENBACH, Über die mit Gold auf Purpur geschriebene Evangelienhandschrift der HAMIL-
roNschen Bibliothek (heute in Oswego, New York) in SB. Berl. Ak. 1889, S. 143—156, wo aus
sachlichen Anhaltspunkten die Jahre 670—680 als Entstehungszeit angegeben werden.
6) S. das Faksimile mit ausführlichen Erläuterungen bei STEFFENS T. 98 (91b); ein anderes
Blatt Zanc.-Warr. T. 35. Vgl. auch J. W. Crank, Care of books S. 41/2. — Lehrreich ist der
oben S.54, Nr.1 zitierte Palimpsest aus der Vatic. Bibl. mit Unciale des IV. (Cicero de re publ.)
und darüber des VIL—VIIL Jhds. (Enarr. in psalm.) so daB man beide miteinander ver-
gleichen kann.
7) Mon. pal. VI, 2. 8) Mon. pal. VI, 1.
9) Vgl. Srgrrzs T. 39 (48b).