Full text: Lateinische Paläographie (Band 1, Abtlg. 1)

  
    
56 B. Bretholz: Lateinische Paläographie. 
Die dritte Gruppe, juridische Werke, findet in der Unziale ihre Vertretung haupt- 
sächlich durch den Veroneser Codex rescriptus der Institutionen des Gaius [nr. 343, 344], 
des bedeutendsten Rechtslehrers des 2. Jahrhunderts, einer Handschrift, die erst 1816 
von NiEBUHR entdeckt wurde und dem 5. Jahrhundert zugeschrieben wird,!) durch die 
florentinische Pandektenhandschrift [nr. 46], die von verschiedenen Schreibern im 6. oder 
7. Jahrhundert hergestellt wurde,?) durch das juristische Fragment aus der Sammlung 
Erzherzog Rainer [nr. 375], in dessen Zeitbestimmung man zwischen 4. bis 6. Jahr- 
hundert schwankt.3) 
Zwei Momente sind es hauptsüchlich, die diese Handschriftengruppe charakteri- 
sieren, und die sich erklären aus dem mehr praktischen Zweck, der diesen Werken inne- 
wohnt oder wenigstens stärker als bei den anderen zutage tritt. Wir finden einesteils 
im Gaius ein stark ausgebildetes Kürzungssystem, sodann in diesem wie in den andern 
beiden Stücken eine Schriftmodifikation, die man als Hinneigung zur Minuskel- 
schrift bezeichnen muß. 
Das Kürzungssystem in den genannten und sonstigen juristischen Handschriften, 
wie etwa im Veroneser Fragment „De iure fisci“ saec. V—VI, hrg. von P. KRÜGER, 
1868 [nr. 333], im Wiener Fragment der „Institutionen“ Ulpians saec. V—VI, hrg. 
von P. KRÜGER 1870 [nr. 358], in den Vatikanischen Fragmenten , Iuris anteiustiniani", 
hrg. von Mommszw 1859 [nr. 272—275], hat sich aus den »Notae iuris" entwickelt, 
indem für die im Rechtsleben stándig auftretenden Worte bestimmte Sigel und Zeichen 
gebraucht wurden. Man begnügte sich zunächst mit der bloßen Schreibung des An- 
lautes, dem zur Unterscheidung gleich anlautender Worte der zweite oder auch noch 
der dritte Buchstabe hinzugefügt wurde, oder das Sigel wurde aus den Anfangsbuch- 
staben der Silben zusammengestellt. Diese Kürzungsweise durch Weglassung, Suspen- 
sion, wie sie sinngemäß genannt wird, bei der auch im Gegensatz zur reinen Sigel- 
kürzung der Abkürzungsstrich statt oder neben dem Punkte eingeführt erscheint, 
spielt in diesen Quellen.die größte Rolle. 
Um einige Beispiele, die eben auch durch die Gaiushandschrift bezeugt sind, anzuführen, 
so bedeutet à, : aut, AT: autem, AP: apud ; Q : que (quae), gg : quoque, 7 : quamvis, 2: vel, 
7425: velut. Die systematische Fortbildung zeigt sich nun darin, daf die Anfangsbuchstaben der 
wichtigsten Silben eines Wortes in das Sigel aufgenommen werden: NGT: negotium und daß bei 
den Casus obliqui die Endung angefügt wird: NGTIO: negotio; dementsprechend dann der Aus- 
gang des Wortes überhaupt: E: est, EE: esse, E EM : essem. 
Eine weitere, mit dem Kompendien- und Ligaturenwesen zusammenhängende Kürzungs- 
weise zeigt sich in dem Durchschneiden des Anlautes durch den ersten Buchstaben der zweiten 
Silbe oder durch den Schlußlaut oder durch einen bloßen Kürzungsstrich: JV für enim (entstanden 
aus EX), für nihil (entstanden aus J), und auch für nisi (entstanden aus Jf); J für inter; N für 
nam, P für per, R,für res, X fiir — xis — (existimavit) u. àhnl. Dann behilft man sich durch, Über- 
schreibung des Endbuchstaben M (mihi), M (modo), N (nostra), N (nec), P (pri-), T, T (testa- 
mentum, — to) usw., schlieBlich durch konventionelle Zeichen, wie 9 für con-, oder durch eigen- 
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letzterer auch eine Seite eines nur einmal beschriebenen Blattes. Die Ausgabe von GUIL.STUDEMUND, 
Gaii institutionum commentarii quatuor codicis Veronensis . . . apographum (Leipzig 1874) enthält 
faksimilierten Abdruck. . Eine vollstándige «Reproduktion nach der Restaurierung erschien als 
»Gai codex rescriptus in bibliotheca capitulari ecclesiae cathedralis Veronensis distinctus numero 
XV (13), cura et studio eiusdem bibliothecae custodis [ANTONIO SPAGNOLO] phototypice expressus. 
Lipsiae, Hiersemann, 1909 (128 Doppeltafeln), bei TRAUBE-LEHMANN noch nicht erwähnt. 
2) Von den Pandekten sind zwei Blatt bei ZAnG.-WaArr. T. 39 und 54 wiedergegeben ; andere 
in der Pal. Soc. und in anderen Sammlungen. 
3) Vgl. WEssELY, Schrifttafeln Nr. 42 (als Unziale s. IV. bezeichnet); ein Lichtdruck findet 
sich in der Abhandlung von L. Prarr und H. HorFMANN, Fragmentum de formula Fabiana, Wien 
1888; darnach in STEFFENS T. 14 der 2. Aufl. Vgl. dazu P. KRÜGER, Das juristische Fragment 
der Sammlung Erzh. Rainer, in Z. Savigny, Rom. Abt. IX (XXII), 144. — Über Rechtsbücher in 
Unziale s. GERHARD a. a. O. S. 177; neu hinzukommt noch das Straßburger Pergamentblatt mit 
Bruchstücken aus Ulpian [nr. 300], vgl. SB. Berl. Ak. XLI (1903), 922 ff. (mit Faks.). 
1) Vom Gaius bieten Zawa.-Warr. T. 24 und STEFFENS T. 18 der 9. Aufl je ein Blatt, 
  
    
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