Full text: Lateinische Paläographie (Band 1, Abtlg. 1)

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Zweiter Hauptabschn.: Entwickel. d. lat. Sehrift. Fiinftes Kap.: Die jiingere rom. Kursive usw. 65H 
daß einige Buchstaben, nämlich a, b, g, p, 7 noch die größte Ahnlichkeit mit jenen in 
den Wachstafeln des 2. Jahrhunderts zeigen, andere, wie e, m und n ganz neue Formen 
erkennen lassen, die möglicherweise durch die griechische Kursive beeinflußt sind.?) 
Abweichend von den Wachstafeln erscheinen ferner f und /, die eher noch an jüngere 
Kursivschrift des 6. Jahrhunderts erinnern, mit der aber im übrigen diese Fragmente 
gar keine Verwandtschaft in palàographischer Hinsicht besitzen.?) 
Die neuesten Papyrusfunde haben mittlerweile noch andere Proben dieser Schrift 
zutage gefórdert?), die allerdings zu trümmerhaft sind, um inhaltlich bestimmt zu 
werden, deren Typus aber eine so vollkommene Übereinstimmung mit jenen älteren 
Stücken bietet, daB man in der Annahme einer eigenen Schreibweise in der kaiserlichen 
Kanzlei nur bestärkt wird. Diese Schrift, fiir die man den Namen , Kaiserkursive" 
anwendet, hat JAFFré sehr schón charakterisiert: als die , vornehm ausgestattete 
Tochter der dem täglichen Gebrauch dienenden, nicht allzu edel geformten älteren 
römischen Kursive“, 
Die vornehmere Ausstattung zeigt sich vorzüglich in dem stattlichen Ausmaß der Buch- 
staben, die in den Mittellin'en die Hóhe von einem Zentimeter leicht erreichen, durch die Ober- 
scháfte dann mehr als verdoppelt werden, wührend Unterlángen eigentlich nur bei g, und q deutlich 
ausgeprägt erscheinen. Die zarte Linienführung, die wenig zwischen Haar- und Schattenstrich 
unterscheidet, gibt der Schrift noch mehr das Gepräge der Schlankheit und Feinheit. Sehr charak- 
teristisch tritt dann der Gegensatz hervor, manche Buchstaben, wie a, o, v, verkleinert dem voran- 
gehenden, häufiger noch dem nachfolgenden Buchstaben anzuhángen, so in den Verbindungen or, ro, os, 
io, am, vi, va, vs u. a. m. Das liegt aber in der allgemeinen Entwicklung der Kursivschrift begründet 
und ist der gewöhnlichen Geschüftsschrift ebenso geläufig. Eine mehr gekünstelte Eigenheit bilden 
dagegen einige Ligaturen bei M und N, die dadurch gebildet werden, daB der Endschaft dieser beiden 
Lettern durch den ganzen oder einen Teil des nüchstfolgenden Buchstaben ersetzt erscheint; sind 
also die regelmäßigen Formen von M und N in der Kaiserkursive 1, M, so bedeuten ["(, |», Hf: 
MI, MO, NF u. àhnl. 
Von den beiden Fragmentengruppen dieser Schriftart, der Leiden-Pariser und 
der Wiener, leitet die letztere zufolge der weiteren Umwandlung einiger Buchstaben 
in die Minuskelform bereits hinüber zu dem wichtigsten Bestand der jüngeren rómischen 
Kursive, den italienischen Papyrusurkunden aus Ravenna, Neapel und Arezzo, be- 
ginnend mit der Mitte des 5. Jahrhunderts (ca. 444) und vollkommen ausgebildet im 
6. Jahrhundert.*) 
Als Geschäfts- und Urkundenschrift Italiens erlangte sie nicht nur lokal, sondern 
auf die ganze weitere Schriftentwicklung entscheidenden Einfluß. Dabei ist die Schrift 
in fortwährendem Fluß. Weder die Art der zahlreichen Ligaturen, noch die Gestalt 
1) Vgl. hierzu WzssELY an der oben S. 64 Anm. 1 zitierten Stelle. 
2) Neben àülteren Schriftproben, über die in der genannten Abhandlung genau Bericht er- 
stattet ist, besitzen wir jetzt Faksimiles des Leidner Fragments in der Pal. Soc. II, 30; daraus vier 
Zeilen bei SrEFFENS T. 18 unten (23c) wiederholt; mehr bietet in Nachzeichnung WrssELY T. 9, 
Nr. 22. Eine Zeile aus dem Pariser Fragment nach WAILLY s. bei ARNDT-TANGL T. 1b. 
3) S. WzssgLv T. 10, Nr. 25: Fragmente dreier Schriftstücke auf Papyrus aus der Slg. Erz- 
herzog Rainer. 5. Jahrh. 
4) Das Hauptwerk ist: MARINI, I papiri diplomatici. (Rom 1805.) Die übrige Literatur 
8. bei WATTENBACH, Anleitung S. 16/17 oder PAoLr- LOHMEYER S. 18/19. — Wir stützen die weiteren 
Ausführungen auf das Faksimilematerial bei 1. WEssELv Nr.26 (Kursive 5. Jahrh. Papyrus Erzh. 
R.), Nr. 27 (Kursive 6. Jahrh. ebenda), Nr. 28 (Kursive einer amtlichen Unterschrift um 550, wichtig 
wegen analoger Schriftform im Griechischen), Nr. 29 (Kursive. Ravenn. Papyrus nach MARINI um 
444), Nr. 30 (Kursive Buchschrift, 6. Jahrh., aus dem Papyrus-Ms. des Avitus nach Pal. Soc. I, 68), 
Nr. 31 (Kursive. Ravenn. Papyrusurkunde v. J. 572 nach Pal. Soc. I, 28); 2. AnNpT-Taxar T. 2 
(Jüngere röm. Kursive. Urkunde von 552 nach CHAMPOLLION-FiGEAC), Nr. 1c (Jüng. röm. Kurs. 
Charta plenariae securitatis v. 565 nach CHAMP.-FıG.); 3. STEFFENS T. 19=2, Aufl. 22 (Jüng. rôm. 
Kurs. Stück einer Papyrusrolle aus Ravenna v. J. 572 nach Pal. Soc. I, 2), Nr. 20 = 2. Aufl, 23a, 
21 = 2. Aufl. 23b (Rom. Halbkursive. Mailinder Papyrushs. mit lat. Übersetzung der Antiqu. Jud. 
6. Jahrh.) Nr. 22, fehlt in der 2. Aufl. (Róm. Halbkursive. Papyrusblatt aus Monza mit Auf- 
zeichnung der h. Óle, Anfang 7. Jahrh.), Nr. 23 —2. Aufl. 25b (Róm. Halbkurs. Mailänder Perga- 
mentkodex mit Homilien. 2. Hàlfte 7. Jahrh.); 4. Mon. graph. I, T. 1 (Ravennater Papyrusurkunde. 
6. Jahrh.) VIII, T. 4 (Veron. Pergamentcodex, mit Prophetien Daniels. 6.—7. Jahrh.). 
Grundri8 der Geschichtswissenschaft I. 2. Aufl. 5 
 
	        
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