68 B. Bretholz: Lateinische Paläographie.
Ihre Anwendung bei literarischen Schriftwerken ist, wenn auch angesichts der
Herrschaft von Kapitale, Unziale und Halbunziale in beschränktem Ausmaße, doch
sicher bezeugt seit dem 5. und 6. Jahrhundert, und zwar einerseits für Randbemerkungen,
anderseits für ganze Texte. Dazu gehören die kursiven Noten in der Handschrift der
Akten des Konzils von Aquileia (381), die ins 5. Jahrhundert gesetzt werden, und in
anderen Majuskelhandschriften!) und die oben (S. 65 Anm. 4) als Buchschriften er-
wähnten Beispiele. Daß in dieser Anwendung die Schrift durch den bescheideneren
Gebrauch von Kursivverbindungen, durch kräftigeren Zug und durch die auf Per-
gament leichter hervorzubringende Deutlichkeit gegenüber der Urkundenschrift an
Lesbarkeit gewinnt, ist wohl außer Zweifel, und damit mag es zusammenhängen,
daB STEFFENS fiir sie den Namen der Halbkursive einzuführen sucht (Erläuter. zu
T. 21—23b). Die Buchstabenformen sind aber im wesentlichen jenen in der Urkun-
denschrift gleich.
Sechstes Kapitel: Die Fortentwicklung der römischen Kursive in Italien |
und Spanien bis zum 12. Jahrhundert.
8 1. Über die sogenannte langobardische Schrift.
Wir haben bereits bei der irisch-angelsüchsischen Schrift die Bezeichnung ,,Na-
tionalschrift" angewandt und dort erklárt sie sich wohl auch von selber. Man fat aber
gewöhnlich unter dem Namen ,Nationalschriften" eine ganze Gruppe von Schrift-
weisen zusammen, in Anlehnung an die durch MABILLON veranlaßte Vorstellung, als
ob die Völker, die sich im frühen Mittelalter auf römischem Boden niederließen und es
hier zu einer staatlichen Organisation brachten, ihre eigene Schrift besessen und das
Wesentliche derselben der in ihren neuen Wohnsitzen vorgefundenen römischen Schrift
gleichsam als Stempel aufgeprägt hátten.?)
Von nationalen Schriften in dem Sinne von Eigenerzeugnissen der Langobarden, Westgoten
und Franken wird in der Paläographie schon lange nicht mehr gesprochen. Aber WATTENBACH
und fast alle Forscher nach ihm haben sowohl den Namen der Klasse als die Bezeichnungen der
"einzelnen Arten beibehalten, mit dem Hinweis darauf, daß „diese Schriftarten unter den Völkern,
deren Namen sie führen, auf gemeinschaftlicher Grundlage ausgebildet wurden". Und übereinstim-
mend werden in den palüographischen Lehrbüchern die ,nach Zeit und Ort eigentümlichen Züge",
die diesen S hriftarten anhaften und sie voneinander unterscheiden, , welche nur Blinde nicht er-
kennen kónnten', hervorgehoben.?)
Diese Bestimmung der ,nach Zeit und Ort eigentümlichen Züge" bildet aber das schwierige
Problem und wir werden daher überall auch betont finden, daB die gemeinsame Grundlage eine oft
vollstàndige Übereinstimmung in verschiedenen Eigentiimlichkeiten verursacht und der Unter-
schied. der örtlichen Provenienz lange nicht so deutlich zum Vorschein kommt, als es die scheinbar
so präzise Namensbezeichnung vermuten ließe.
Unter dem Namen Nationalschriften subsumierte man die langobardische, west-
gotische, merowingische und angelsächsische Schrift. Die Bezeichnungen an sich, ob
gut oder nicht gut gewählt, spielen dabei keine entscheidende Rolle; denn wir werden
noch sehen, daß eine spätere Schriftart einen noch weit weniger zutreffenden Namen
1) Zanc.-WaTT. T. 4, 5, 8—10, 15, 21, 34 (nach Paorr-LOHMEYER S. 16, Anm. 2).
2) Bezeichnend für seine Auffassung sind die Sätze in dem bekannten Kap. XI des 1. Buches
in , De re diplomatica (S. 45/6): ,, Alius quippe scribendi modus obtinuit apud Romanos, alius apud
alias nationes. Pro hac nationum diversitate totidem fere scribendi modos enumerare licet, immo
uniuscuiusque nationis varios pro temporum variet:te. Quatuor scripturarum genera enumerari
solent, Romana vetus, Gothica, Anglosaxonica et Langobardica.“ , Gothi .. . Gothicis litteris Ro-
manas aliquantisper vitiarunt. Tum saeculo VI. Langobardis in Italiam effusis, successit Lango-
bardiea scriptura ad communem usum." Vgl. dazu TaAuszs Bemerkungen einmal in Vorl. u.
Abh. I, 45, dann wiederum II, 9.
3) Vgl. etwa PAorr-LomwEzvER, Grundrif S. 24.