Full text: Lateinische Paläographie (Band 1, Abtlg. 1)

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Zweit.Hauptabschn.: Entwick. d. lat. Schrift. Sechst. Kap. : Die Fortentwick. d.röm. Kursive usw. 69 
führt, der aber allgemein angenommen und verstándlich ist. Es handelt sich mehr um 
die Definition des Begriffes, der mit der betreffenden Bezeichnung verknüpft sein soll. 
In dieser Hinsicht bietet unter den Nationalschriften die sogenannte langobar- 
dische Schrift wohl die größten Schwierigkeiten für eine bestimmte Umgrenzung nach 
Entstehungszeit, Herrschaftsgebiet und charakteristischen Eigenheiten. Schon WATTEN- 
BACH hat in seiner „Anleitung“ (S. 19) darauf hingewiesen, daß in der ältesten Zeit, d. h. 
also im 6. und 7. Jahrhundert, die „langobardische Schrift der merowingischen sehr 
ähnlich sieht“, und fast mit den nàmlichen Worten áuDert sich Paorr. DELISLE und 
SrckzL gehen mit dieser Bezeichnung sehr vorsichtig um. Nur mit einem gewissen Vor- 
behalt akzeptiert TANGL bei der aus Corbie stammenden Fortunathandschrift in Peters- 
burg saec. VIII. den Namen ,altlangobardische Schrift". (Erl. zu T. 6 u. 71b.) 
Schließlich hat aber TRAUBE in diese altüberlieferte Nomenklatur tiefe Bresche 
geschlagen und deutlich nachgewiesen, welches Mixtum von Schriften franzôsischer, 
nord- und süditalienischer Provenienz unter dem Namen ,langobardisch" zusammen- 
gefaßt wird.!) Vorzüglich die Gruppe von Handschriften, die aus Corbie, einer der 
Hauptstätten alten kontinentalen Schrifttums, herrühren, wäre nach ihm vollständig 
auszuscheiden und nach einem Falle zu urteilen?), móchte er für die darin verwendete 
Schriftart den Namen ,Schrift von Corbie" in Anwendung bringen. 
"Man würde als longobardisch jene Schriftart bezeichnen dürfen, die in der lango- 
bardischen Kónigskanzlei und in Privaturkunden Norditaliens in Anwendung kam; 
aber auffallenderweise hat sich nur ein Original, das vielleicht auch bloß gleichzeitige 
Abschrift ist, von einer langobardischen Kónigsurkunde erhalten?) und dieses zeigt, wie 
die Privaturkunden Mailands und Veronas, eine in der unmittelbaren Entwicklungs- 
linie der jüngeren rómischen Kursive liegende Schrift.*) 
Die Codices aber, die als Muster langobardischer Schrift saec. VII.—IX. in den 
palüographischen Werken zitiert erscheinen, zeigen, selbst wenn man sich auf jene 
sicherer norditalienischer Provenienz beschrünkt, keinen einheitlichen Charakter.?) Be- 
züglich der Veroneser Augustinhs. aus dem Ende des 8. Jahrhunderts bemerkt Tnowr- 
sowNS), daB darin das halbunziale Element stark zum Ausdruck komme, dagegen der 
langobardische Typus sehr zurücktrete; vom Veroneser Isidorus saec. VIII. sagt 
WATTENBACH, da er, obgleich in Verona geschrieben, mehr merowingisch aussehe’) ; 
das St. Galler Sakramentar saec. VIII.—IX., aber nicht in St. Gallen geschrieben, dessen 
Schrift THOMPSON nur als ,o modified Lombardic" gelten lassen möchte, hat, wie schon 
angedeutet, DELISLE und SrckEL zu Bemerkungen über die Unsicherheit des Terminus 
,langobardische Schrift" Veranlassung gegeben.®) Schließlich kämen noch in Betracht 
1) Perrona Scottorum, a. a. O. S. 472—476. 
2) In dem Aufsatz „Pal. Anzeigen“ im NA. XXVI, 231 berichtigt TRAUBE bei einer in den 
,Mon. pal. sacra" vertretenen Schriftprobe (Turin D. V. 3 ,, Vitae sanctorum") die Schriftbezeich- 
nung der Herausgeber , carattere longobardo settentrionale del saec. VII/VIII" in , Schrift von Corbie 
saec. VIII/IX. 
3) Vgl. A. Cugovsr, Untersuchungen über die langobardischen Kónigs- und Herzogsurkunden 
(Graz 1888), S. 21, 211, dazu BnzssrAv, Urkundenlehre S. 881, Anm. 6. — Von der angeblichen 
Originalurkunde K. Aistulfs vom J. 755 bieten (nach TRAUBE a. a. O.) die Mon. pal. sacra die erste 
Reproduktion; jetzt auch STEFFENS Suppl. 18—39 der 2. Aufl. mit der Benennung ,,alt-italienische 
ursive", 
4) Nebst den schon in der Kursive erwühnten norditalischen Privaturkunden-Faksimiles 
der Mon. graph. vgl. noch die langobardische Privaturkunde vom J. 721 aus dem Mailänder Staats- 
archiv bei SrEFFENs T. 29 (fehlt in der 2. Aufl.). 
5) MoniNIELLO, À., Della scrittura longobarda nelle sue diversi fasi (Roma 1906), wird mir 
als ziemlich wertlos bezeichnet. 
6) Handbook, S. 218; ein Faks. s. Mon. graph. IIL 1. 
7) Anleitung S. 19; Faks. in Mon. graph. I, 2. 
8) Vgl. MIÓG. VIII, S. 488 und das dort zitierte , Mémoire sur d'anciens sacramentaires", von 
L. DELISLE; Faks. in Pal. Soe. T. 185, Album paléogr. T. 17a. 
 
	        
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