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58 Aloys Meister: Deutsche Verfassungsgeschichte des Mittelalters usw.
6. Der Graf.
ALFR. PERNICE, Artikel: Graf, in Ersch u. Grubers Encyklopädie IV, 412f. K. F. v. SAvreny,
Gesch. des röm. Rechts I, 267f. R. SoxM, Reichs- und Gerichtsverfassung I, 74, 146f. BEAUCHET,
Histoire de l'organisation judiciaire en France 1886. S. 9,160f. FusTEL DE COULANGES, Monarchie
franque. S.196. Warrz, Vig. 2, S. 21f. 3?, S. 3781. SCHRÖDER, Rg.°S. 136f. BRUNNER, Rg. 2, 161. —
Markgrafen: Warrz, Vfg. 3?. 3691. — Vicecomes: WArrz, Vig. 32 3761. 7, 34. EICHHORN, Z. f. Rechts-
wissenschaft, 8, 315.
Der lateinisehe Ausdruck comes, der den Einrichtungen des rómischen Reiches
entnommen ist und daran erinnerte in Bezeichnungen der fränkischen Zeit, wie comes
stabuli (connétable) und comes palatii, hat ursprünglich eine andere Bedeutung als
der germanische Ausdruck grâfio!), der Befehlshaber bedeutete; später aber sind beide
Bezeichnungen einander gleichbedeutend. :
Der comes, ein Offizier, war schon nach rómischem Recht nicht nur Anführer,
sondern auch Richter seiner Soldaten. Die ostgotische Herrschaft in der Provence
ging insofern einen Schritt weiter, als sie den gotischen comes nicht nur über seine
Goten (die Soldaten), sondern auch in Prozessen zwischen Goten und Rómern ent-
scheiden ließ.?) Die ausgehende Römerzeit kannte schon einen comes civitatis, der
militärischer Befehlshaber eines Civitas-Bezirkes war, die höchste Zivilgewalt, und die
richterlichen Befugnisse eines Provinzialstatthalters hatte.®) An diesen knüpfte die
Einrichtung des fränkischen comes in Gallien an. Nun aber sehen wir zu gleicher
Zeit noch germanische Grafen, die nicht Richter sind, die mehr als militärische Be-
fehlshaber auftreten, während der thunginus noch der Richter ist. Diese Grafionen
führen also zunächst nicht die lateinische Bezeichnung comites, weil der Begriff des
comes sich nicht damit deckte, für sie paßte eher die Benennung praefecti. Wir
haben demnach eine Zeitlang zwei verschiedenartige Beamte nebeneinander, den
rómischen comes und den deutschen Grafen. Der comes stand in dieser Zeit dem
Rang nach hóher als der Graf. Nun erhielt aber der deutsche Graf Befugnisse des
gallischen comes, besonders die richterlichen, und indem er so allmählich den thun-
ginus überflüssig macht und dessen richterliche Funktionen übernimmt, wurden
Amt und Namen des gráfio und des comes einheitlich.
Das Grafenamt in seiner fertigen Ausbildung zeigt uns seinen Tráger vor allem
als einen richterlichen und militärischen Beamten, Aber er ist Beauftragter des Kö-
nigs; er verwaltet sein Amt nicht kraft eigenen Rechts, sondern er ist zur Verwaltung
verpflichtet. Er kann seines Amtes entsetzt, er kann bestraft werden, wenn er seine
Pflichten verletzt.
Der Graf ist der ordentliche Richter im Gau, er gebietet im Gau unter Grafen-
bann; er ist Vorsitzender des echten Dings, er sorgt für Vollstreckung des Urteils.
Die Strafen (das Gewette) sind nicht in das Ermessen des Grafen gestellt, sondern sie
sind bestimmt durch das Stammesrecht. Der König gibt dem Grafen aber für be-
stimmte Fälle das Recht, unter Königsbann zu gebieten, wodurch die erhöhte Bann-
buße von 60 Schillingen eintritt. Die sächsischen Grafen haben sehon in der Capi-
tulatio de partibus Saxoniae dieses Recht für alle causae maiores erhalten. *)
Als militärischer Beamter leitete er im Auftrag des Königs die für einen Kriegs-
zug auf seinen Gau entfallende Aushebung der Heerespflichtigen und war gleichzeitig
ihr Befehlshaber. Er zog die verwirkten Heerbannbußen ein und bestimmte in der
1) Von got. gréfja (von gagréfts Befehl) ScuRópzm, Rg.5 8.136, Anm. 10. Dagegen denken
H. BRuxNzn, Rg. 2, S. 161 und HRUSLER, Vig. 46 an garôfjo, garêfjo = Führer des róf-numerus.
2) KrENER, Verfassungsgeschichte der Provence. S. 16. Um 460 sind in Trier und Marseille
comites civitatis nachweisbar.
3) Vgl. über den römischen comes civitatis W. SICKEL, GGA. 1886. S. 569f. WZ. 9, 952.
4) Cap. 31, MG. Leg. Sectio II Capitularia I 70.