60 Aloys Meister: Deutsche Verfassungsgeschichte des Mittelalters usw.
Eine Besonderheit Westfranziens und Italiens ist es, daß dort ein vicecomes auf-
tritt. Der öffentliche Vertreter des patricius, des Statthalters, in der Provence hieß
vicedominus!), und auch in Septimanien und der späteren spanischen Mark finden wir
diesen vicedominus, im 9. Jh. auch in Italien. Er ist ein Vertreter des Grafen für die
ganze Grafschaft und er wurde nótig da, wo mehrere Grafschaften in einer Hand ver-
einigt wurden. In Deutschland bürgerte sich dieses Amt nicht ein.
Das Grafenamt hat von allen frünkischen Einrichtungen die záheste Dauer gehabt. Nicht
nur, daB heute noch die Titel Graf, marquis (ital. marchese), vicomte (engl. vicount), darauf zu-
rückgehen; die Grafen gelangen vielfach in direktem Aufsteigen zum Fürstenrang, dann zum Besitz
der Landeshoheit unter möglichster Ausschaltung des Königtums.
7, Die Hilfsbeamten des Grafen,
A. WEBER, Der Zentenar nach den karolingischen Kapitularien. Leipzig. Diss. 1894. SomHw,
Fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung I, 213f. W. Sicker, MIOG. 4, 623f. Warrz, Vig. 22.
S. 391f. BRUNNER, Rg. 2, § 82. 88. H. GrLirscH, Der alamannische Zentenar u. s. Gericht. 1917.
Ber. d. sáchs. Ges. d. W., Bd. 69, S. 156ff.
a) Der Zentenar.
Der centenarius kommt schon in der Lex Salica neben dem thunkin als Richter
im gebotenen Ding vor.?) Das Vorkommen eines centenarius setzt die Existenz einer
centena voraus. Der Zentenar ist der Vorsteher der Zentene, die gleichzeitig der Be-
zirk des Niedergerichts ist. Bei den Alamannen, wo man weniger die lateinischen Be-
zeichnungen centena und centenarius verwandte, heiBt der Zentenar, der hundari
entsprechend, hunno. Bei den Sachsen ist der Vorsteher des Go der Gogreve, der das
Niedergericht, goding, abhält. Es ist immer ein Volksbeamter und er wird vom
Dingvolk gewählt.?) Vom Grafen ist er zunächst ganz unabhängig; denn er war eher
da als der Graf der Grafschaft. Deshalb kann er auch nicht den Grafen im echten
Ding, Grafengericht, vertreten.*) Aber wie der thunkin statt des Zentenars den Vor-
sitz im gebotenen Ding übernehmen konnte, so konnte nach dem Verschwinden des
thunkin der Graf jederzeit anstelle des Zentenars im gebotenen Ding ebenfalls den
Vorsitz einnehmen. Bei den Alamannen wird in diesem Falle der Zentenar Beisitzer.
Dadurch kommt er unter den Grafen und wird im Laufe der Zeit aus einem Volks-
beamten zu einem Unterbeamten des Grafen. Die volkstümliche Zentenargerichts-
barkeit wird vom Grafen beeinflußt und ihm schließlich untergeordnet.
Aber auch dann noch erfolgt seine Ernennung comite e£ populo, also unter Mit-
wirkung des Volkes. Auch als gräflicher Beamter behält er seine leitende Stellung für
den Bezirk der Zentene.
b) Der Vikar.
In den romanischen Reichsteilen begegnet uns als Unterbeamter des Grafen
der Vikar. Er wird vom Grafen ernannt, anfangs unter den Merowingern ohne festen
Sprengel, dann aber meist nur für einen Unterbezirk der Grafschaft. Dort tritt er
uns besonders als Richter entgegen. In karolingischer Zeit ist die Einrichtung von
Vikarien in Westfranzien so allgemein durchgeführt, daß jede Grafschaft in mehrere
Vikarien eingeteilt ist. Seitdem ist die Stellung des Vikars in Westfranzien analog
der Stellung des Zentenars in den germanischen Teilen.
1) W. StckzrL, Zur deutschen Verfassungsgesch. MIÓG. Ergbd. 3. S.561f. Anm.1. J. FICKER,
Forsch. z. Reichs- u. Rechtsgesch. Italiens 2, 29f. $ 225. KrIENER aaO. S. 65f.
2) S. o. S. 54. Vgl. Lex Salica c. 46, ed. GEFFKEN p. 46f.
3) Der gogreve ist im ursprünglichen Text des Sachsenspiegels noch ein Volksbeamter, eben-
falls der hunne in niederrheinischen Weistümern. — Bei den Friesen heiüt der Vorsitzende des Ge-
richtsbezirks (ban, bifang), der dem Go der Sachsen und der Zentene der Franken entspricht, Schulze,
Banner oder Frone (schelta, bon, frana); er ist aber nicht nur Gerichtsleiter im Niedergericht, son-
dern auch gleichzeitig Vollstreckungsheamter.
4) SCHRÔDER 19, S. 177. Der Zentenar kann jedoch als missus comitis mit der Vertretung
wie jeder andere besonders beauftragt werden.