WISSENSCHAFTSLEHRE: DIE LÜCKEN BEI KANT. 393
aus einem Gusse herstellt. Die Wahrheit findet nur, wer sie selbständig,
auf eigenem Wege in sich neu erzeugt. So enthält denn das Fichtesche
System dieselbe Ansicht der Sache, wie das kritische — der Verfasser
weiß, heißt es in der Vorrede zu dem Programm „Über den Begriff der
lie beabsichtigte Wissenschaftslehre“ 1794, „daß er nie etwas wird sagen können, worauf
italter den Geist nicht schon Kant, unmittelbar oder mittelbar, deutlicher oder dunkler
Verdienst Kants gedeutet habe“ —, ist aber in seinem Verfahren ganz unabhängig von
Icher durch die der Kantischen Darstellung. Wir fragen zuerst: was ist an der Kanti-
gen; nicht diese schen Philosophie ergänzungsbedürftig? Sodann: welchen Weg muß die
Objekten abzieht Vollendung derselben einschlagen?
Ss Systems anzu- Kant betrachtet die Gesetze der Intelligenz, wie sie schon ange-
sah über einigen wandt sind auf die Objekte, ohne Aufklärung über den Grund dieser
enen Stoff, vom Gesetze zu geben. Er hat die reinen Begriffe (die Gesetze der Substan-
neint waren, die tialität, der Kausalität u. s. w.) aus der (Logik, also mittelbar aus der)
auptet wird. So Erfahrung geschöpft, statt sie aus dem Wesen der Intelligenz abzuleiten;
le anlegend, aus ebenso ist er diese Ableitung für die Anschauungsformen Raum und
te, und ihn, den Zeit schuldig geblieben. Um einzusehen, daß und warum die Intelligenz
remacht; so ent- gerade so handeln (gerade vermittelst dieser Kategorien denken) müsse,
chste Zusammen- darf man nicht bloß wie Kant behaupten, sondern muß beweisen, daß
stem Idealismus. jene Handlungen oder Formen wirklich Denkgesetze — oder, was das-
zus dem Studium selbe heißt, Bedingungen des Selbstbewußtseins — sind. Zugegeben aber,
ı bilden mußten, Kant habe die Beschaffenheiten und Verhältnisse des Dinges (daß es in
mente verzeihlich Raum und Zeit erscheine und seine Akzidentien auf Substanzen bezogen
icht voraussetzen, werden müssen) erklärt, so bleibt noch die Frage offen, woher denn der
r ‚das Werk des Stoff komme, der in jene Formen aufgenommen wird. So lange man
alten. Nur zwei nicht das ganze Objekt vor den Augen des Philosophierenden entstehen
hellste Kopf des Jäßt, ist der Dogmatismus noch nicht aus seinem letzten Schlupfwinkel
nen, die sich aus vertrieben. Das Ding an sich ist auch nur ein Gedanke im Ich. Wenn
ı, daß Kant den hierdurch der Gegensatz von Form und Stoff der Erkenntnis eine Mo-
Jen, sondern ge- difikation erfährt, so muß auch der damit zusammenhängende von Ver-
stand und Sinnlichkeit, wie Reinhold richtig erkannt hat, auf ein gemein-
Deutlichkeit ver- schaftliches Prinzip zurückgeführt und die Rezeptivität als eine sich selbst
\ls System gefaßt, begrenzende Spontanäität gefaßt werden. Auch in der praktischen Phi-
m Geständnis war losophie hat Kant noch manches wnerledigt gelassen. Der kategorische
dern nur, Funda- Imperativ ist noch einer weiteren Ableitung fähig, er ist nicht das Prinzip
arf demnach, ob- selbst, sondern eine Folgerung aus dem wahren Prinzip, dem Gebote der
‚ch feststeht, noch absoluten Selbständigkeit der Vernunft; außerdem muß die Art des
zu einem System, Bewußtseins, das wir vom Sittengesetz haben, und, damit statt einer bloß
unerschütterliches formalen eine reelle Sittenlehre gewonnen werde, sein Verhältnis zum
des Idealismus Naturtriebe näher erörtert werden. Endlich hat Kant nirgends die Grund-
en in Form eines lage aller Philosophie behaudelt, sondern stets die theoretische und die
sserung und Hin- praktische gesondert und auch Reinhold nichts gethan, diesen Dualismus
aß sie das Ganze zu beseitigen. Kurz: Einiges, was Kant nur behauptet oder vorausgesetzt,