274 TSCHIRNHAUS, WOLFF.
Graf Ehrenfried Walter v, Tschirnhaus(en)! das Vorbild einer
anderen Gruppe von Aufklärungsphilosophen, die in einem mehr wissen-
schaftlichen Sinne dem Eklektizismus huldigten, indem sie von metho-
dologischen Überlegungen aus den Gegensatz des Rationalismus und
Empirismus zu überwinden versuchten. Fest überzeugt von der Bündigkeit
und Unentbehrlichkeit des mathematischen Verfahrens auch in philo-
sophischen Untersuchungen, hält Tschirnhaus es doch für unerläßlich,
daß die Deduktionen einerseits ihren Ausgang von empirischen Tatsachen
nehmen, andererseits durch Experimente bestätigt. werden. Die innere
Erfahrung gewährt uns vier Urfakta, deren oberstes die Gewißheit des
Selbstbewußtseins ist. Das zweite, daß uns manches angenehm, manches
unangenehm affiziert, ist die Basis der Moral; das dritte, daß uns. einiges
begreiflich ist, anderes nicht, die der Logik; das vierte, daß wir passiv
durch die Sinnlichkeit Eindrücke von außen erhalten, die der empirischen
Wissenschaften, speziell der Physik. Demnach- sind Bewußtsein, Wille,
Verstand und sinnliche Vorstellung. (imaginatio) nebst der Körperlichkeit
unsere Grundbegriffe. Nicht die Wahrnehmung (perceptio), sondern allein
der Begriff (conceptio) gibt Wissenschaft; wahr ist, was wir ‚begreifen‘
können, der Verstand als solcher kann nicht irren, wohl aber kann die
Imagination uns zur Verwechslung des bloß Vorgestellten mit Begriffenem
verführen, ‘ Das Verfahren der Wissenschaft ist die geometrische Be-
weisführung, die von (genetischen) Definitionen ausgeht und aus deren
Analyse Axiome, aus ihrer Verbindung Theoreme gewinnt. Für das
solcherweise a priori Bewiesene muß jedoch, wie bemerkt, a posteriori
Bestätigung erbracht werden. Die höchste unter allen Wissenschaften
ist die Naturphilosophie, da sie nicht nur die Sinnendinge und nicht nur
(wie die Mathematik) die Vernunftdinge,. sondern das Wirkliche selbst
in seiner wahren Beschaffenheit betrachtet. Deshalb ist sie die göttliche
Wissenschaft, während sich die menschlichen nur mit unseren Vorstel-
lungen oder mit der Relation der Dinge zu uns beschäftigen.
2. Chr. Wolff,
Christian Wolff, geb. 1679 in Breslau, studierte in Jena Theologie,
daneben Mathematik und Philosophie, habilitierte sich 1703 in Leipzig
und erhielt durch Leibniz’ Vermittelung 1706 eine Professur der Mathe-
matik in Halle, Seine Vorlesungen, die sich bald über alle philosophischen
Disziplinen ausdehnten, fanden großen Anklang. Diese Beliebtheit so-
wie die rationalistische Denkrichtung des Philosophen erregten die Miß-
gunst der Pietisten Francke und Lange, die beim König Friedrich Wil-
. * Tschirnhaus (1651—1708): Medicina mentis sive artis inveniendi praecepta
generaka 1687. Über ihn Joy. VERWEYEN (Bonner Dissert,) 1906.