Full text: Geschichte der neueren Philosophie von Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart

440° SCHLEIERMACHER, 
muß man sagen, daß, je religiöser jemand sei, er desto unkirchlicher werden 
müsse und der Gebildete die Kirche bekämpfe, um "die Religion zu be- 
fördern. — Die sogenannte natürliche Religion ist nichts als ein abstraktes 
Gedankending, in der Wirklichkeit existieren nur positive Religionen. 
Die eine, allgemeine, ewige Religion kann sich bei der Unendlichkeit Gottes 
und der Endlichkeit des Menschen nur in einzelnen historischen Religions- 
formen darstellen, die man offenbart nennt als gestiftet durch religiöse» 
Heroen, schöpferische Persönlichkeiten, in denen sich an einer neuen 
Anschauung des Universums ein besonders lebhaftes reliziöses Gefühl 
entzündet und (nicht, wie die künstlerische Eingebung, einzelne Augen- 
blicke, sondern) die ganze Existenz bestimmt. In der Entwickelung der 
Religion sind drei Stufen zu unterscheiden, je nachdem die Welt als un- 
geordnete Einheit (Chaos) oder als unbestimmte Mannigfaltigkeit von 
Kräften und Elementen (einheitlose Vielheit) oder endlich als gegliederte, 
von der Einheit beherrschte Vielheit (System) vorgestellt wird: Fetischis- 
mus nebst Fatalismus, Polytheismus, Mono- (einschließlich Pan-) theis- 
mus. Unter den Religionen der dritten Stufe ist der Islam physisch oder 
ästhetisch, das Judentum und das Christentum aber ethisch oder teleo- 
Jogisch gestimmt; die volikommenste ist die christliche, weil sie statt der 
jüdischen Vergeltungsidee dem Begriffe der Erlösung und Versöhnung 
(also dem, was der Religion wesentlich ist) die zentrale Stellung anweist. 
; Wie für die Religionsphilosophie, so ist auch für die Ethik Schleier- 
machers der Begriff der Indi vidualität überaus wichtig geworden, in 
deren Hochschätzung er sich zu Leibniz, Herder, Goethe, Novalis, gesellt. 
Nun kann man sowohl hinsichtlich dessen, was das Individuum ist, als 
dessen, was es leisten soll, zwei Seiten unterscheiden. Wie jedes Einzel 
wesen. ist der Mensch eine abgekürzte, konzentrierte Darstellung des 
Universums, er enthält alles in sich, und zwar enthält er es auf eine unent- 
faltete, der Entwickelung im zeitlichen Leben harrende Weise, zugleich 
aber in einer eigentümlichen, so- nirgends noch einmal vorkommenden 
Form. Daraus ergibt sich eine doppelte sittliche Aufgabe. Das Indi- 
viduum soll die unendliche Fülle von Inhalt, die es als Möglichkeit, #15 
schlummernde Keime besitzt, zur Wirklichkeit erwecken, seine Anlagen 
harmonisch entwickeln, darf jedoch dabei die ihm zuteil gewordene 
einzigartige Form nicht als etwas Wertloses betrachten. Es soll sich fühlen 
nicht als ein bloßes Exemplar, als eine gleichgültige Wiederholung seiner 
Gattung, sordern als einen besonderen und in dieser Besonderheit 
bedeutungsvollen Ausdruck des Absoluten, mit dessen Wegfall eine Lücke 
in der Welt entstehen würde. Es ist auffallend, daß die meisten von den- 
jenigen Denkern, die für den Wert ‚der Individualität eingetreten sind, 
viel weniger Gewicht legen auf die mikrokosmische Natur des Individuums 
und die allseitige Ausbildung der Anlagen, als auf die Pflege seiner 
Eigentümlichkeit. So auch Schleiermacher. Doch ist er von dem
	        
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