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mäl, wozu du dich innerlich angeregt und wozu du dich von außen auf-
gefordert findest. Statt dem ermüdenden Schematismus der Ethik Schleier-
machers weiter zu folgen, heben wir einen vom Philosophen auch noch
(1825) gesondert behandelten Grundgedanken hervor: die schroffe Ent-
gegenstellung von Natur- und Sittengesetz, wie sie Kant vertritt,
ist unberechtigt, das Sittengesetz ist selbst ein (höheres) Naturgesetz,
nämlich das des vernünftigen Willens... Weder ist das Sittengesetz ein
bloßes Sollen, noch das Naturgesetz ein bloßes Sein und ausnahmslos
befolgtes Müssen. Denn einerseits betrachtet die Ethik das Gesetz, welches
das menschliche Handeln wirklich befolgt, anderseits gibt es auch ın der
Natur Abweichungen von der Vorschrift. Die Unsittlichkeit, das nicht
vollkommen Herrwerden des intelligenten Willens über die sinnlichen
Triebe, hat ein Analogon an den Unnormalitäten — Mißbildungen, Krank-
heiten — in der Natur, welche. zeigen, daß auch hier den höheren (organi-
schen) Prinzipien die Beherrschung der niederen (physikalisch-chemischen)
Prozesse nicht vollständig gelingt. Überall erleidet das höhere Gesetz
Störungen durch” den nicht völlig besiegbaren Widerstand der niederen
Kräfte. Es ist Schleiermachers Determinismüus, der ihn über der Paralleli-
tät den wesentlichen Unterschied beider Gesetzgebungen übersehen läßt.
Überdies setzt er irrtümlich Naturgesetz und Gattungstypus gleich; von
letzterem“ sind Abweichungen möglich, von ersterem nicht. Auch dem
Problem des sittlich Gleichgültigen, dem Begriff des bloß Erlaubten
hat er eine eigene Abhandlung (1826) gewidmet. Dieser Begriff gehört
in das Gebiet des Rechtes, wo er seinen ursprünglichen Sitz hat; auf dem
der Sittlichkeit ist er nicht statthaft. Seine Zulassung ist ein charak-
teristisches Merkmal einer „negativen“ Ethik, in der die Vernunft auf
Gewähren und Versagen beschränkt wird. Wer aber verlangt, es solle
sich im sittlichen Menschen alles nur als Organ zur Intelligenz verhalten,
der kann jenen Begriff nicht zulassen.
. Durch Schleiermacher wurden \angeregt Franz Vorländer (f 1867
in Marburg; Schl.s Sittenlehre 1851); Leop. George (f 1874 ın. Greifs-
wald; Die fünf Sinne 1846; Lehrbuch der Psychologie 1854), der Theolog
Rich. Rothel in Heidelberg (+ 1867; Theol. Ethik, Witt. 1845—48,
2.A. 1867—71, Übersicht ders. v. AHRENDTS, Bremen 1894; Ges. Vor- 2
träge u. Abhh. hg. v. NırPoLD, Elberf. 1886) und die Philosophiehisto- a
riker Brandis (7 1867 in Bonn; über ihn TRENDELENBURG 1868 aus den B
Abhh. der Berliner Akad.) und Heinr. Ritter (f 1869), Lotzes Kollege A}
in Göttingen. W. DıiLTHEY, Lotzes Nachfolger in Berlin, hat dem Leben dı
Schleiermachers ein bedeutendes Buch gewidmet (I. Band 1867—70); 5]
vgl. auch die kürzere Darstellung von DIiLTHEY in der Allgem. deutschen gl
ı Über Rothe NırroLD Witt. 1873—74; "TROELTSCH Freib. 1899; HEINR. HOoLTZ- di
MANN: Rıs spekül. System, das. 1899; W. FLADEs Leipz. Diss. 1900; vorzüglich A. HAUs- 1
RATH: R. u,’ seine Freunde 1901—#06; EHLERS 1906.