Full text: Geschichte der neueren Philosophie von Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart

448 SCHLEIERMACHER, 
mäl, wozu du dich innerlich angeregt und wozu du dich von außen auf- 
gefordert findest. Statt dem ermüdenden Schematismus der Ethik Schleier- 
machers weiter zu folgen, heben wir einen vom Philosophen auch noch 
(1825) gesondert behandelten Grundgedanken hervor: die schroffe Ent- 
gegenstellung von Natur- und Sittengesetz, wie sie Kant vertritt, 
ist unberechtigt, das Sittengesetz ist selbst ein (höheres) Naturgesetz, 
nämlich das des vernünftigen Willens... Weder ist das Sittengesetz ein 
bloßes Sollen, noch das Naturgesetz ein bloßes Sein und ausnahmslos 
befolgtes Müssen. Denn einerseits betrachtet die Ethik das Gesetz, welches 
das menschliche Handeln wirklich befolgt, anderseits gibt es auch ın der 
Natur Abweichungen von der Vorschrift. Die Unsittlichkeit, das nicht 
vollkommen Herrwerden des intelligenten Willens über die sinnlichen 
Triebe, hat ein Analogon an den Unnormalitäten — Mißbildungen, Krank- 
heiten — in der Natur, welche. zeigen, daß auch hier den höheren (organi- 
schen) Prinzipien die Beherrschung der niederen (physikalisch-chemischen) 
Prozesse nicht vollständig gelingt. Überall erleidet das höhere Gesetz 
Störungen durch” den nicht völlig besiegbaren Widerstand der niederen 
Kräfte. Es ist Schleiermachers Determinismüus, der ihn über der Paralleli- 
tät den wesentlichen Unterschied beider Gesetzgebungen übersehen läßt. 
Überdies setzt er irrtümlich Naturgesetz und Gattungstypus gleich; von 
letzterem“ sind Abweichungen möglich, von ersterem nicht. Auch dem 
Problem des sittlich Gleichgültigen, dem Begriff des bloß Erlaubten 
hat er eine eigene Abhandlung (1826) gewidmet. Dieser Begriff gehört 
in das Gebiet des Rechtes, wo er seinen ursprünglichen Sitz hat; auf dem 
der Sittlichkeit ist er nicht statthaft. Seine Zulassung ist ein charak- 
teristisches Merkmal einer „negativen“ Ethik, in der die Vernunft auf 
Gewähren und Versagen beschränkt wird. Wer aber verlangt, es solle 
sich im sittlichen Menschen alles nur als Organ zur Intelligenz verhalten, 
der kann jenen Begriff nicht zulassen. 
. Durch Schleiermacher wurden \angeregt Franz Vorländer (f 1867 
in Marburg; Schl.s Sittenlehre 1851); Leop. George (f 1874 ın. Greifs- 
wald; Die fünf Sinne 1846; Lehrbuch der Psychologie 1854), der Theolog 
Rich. Rothel in Heidelberg (+ 1867; Theol. Ethik, Witt. 1845—48, 
2.A. 1867—71, Übersicht ders. v. AHRENDTS, Bremen 1894; Ges. Vor- 2 
träge u. Abhh. hg. v. NırPoLD, Elberf. 1886) und die Philosophiehisto- a 
riker Brandis (7 1867 in Bonn; über ihn TRENDELENBURG 1868 aus den B 
Abhh. der Berliner Akad.) und Heinr. Ritter (f 1869), Lotzes Kollege A} 
in Göttingen. W. DıiLTHEY, Lotzes Nachfolger in Berlin, hat dem Leben dı 
Schleiermachers ein bedeutendes Buch gewidmet (I. Band 1867—70); 5] 
vgl. auch die kürzere Darstellung von DIiLTHEY in der Allgem. deutschen gl 
ı Über Rothe NırroLD Witt. 1873—74; "TROELTSCH Freib. 1899; HEINR. HOoLTZ- di 
MANN: Rıs spekül. System, das. 1899; W. FLADEs Leipz. Diss. 1900; vorzüglich A. HAUs- 1 
RATH: R. u,’ seine Freunde 1901—#06; EHLERS 1906.
	        
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