Full text: Adolf Bayersdorfers Leben und Schriften

"Ge 
Michelangelo 
Übersehen wir die Reihe der plastischen Arbeiten Michel- 
angelo8, so stoßen wir auf eine durchgehende Eigenschaft, 
die in keinerlei künstlerischen Absicht ihren Grund findet, 
sondern im hastigen Temperament des Urhebers, welcher Kon- 
zeption und Ausführung in einer Weise verknüpft, daß diefe 
beiden Faktoren sich nicht in herkömmlicher Weise zu decken im 
stande sind. Jh meine nämlich die in der Regel unzuläng- 
liche Kalkulation im gegebenen Umfang des Rohmaterials. 
Michelangelo macht offenbar keine Modelle in der 
Größe des auszuführenden Werkes, um dann mit deren 
Maßen den Marmorblo> auszusuchen, sondern mit Hilfe 
einer kleinen Thon- oder Wachsskizze, ja gewiß manchmal 
ohne eine solche, denkt er sich direkt in einen vorhandenen 
Blo> sein plastisches Gebilde und fängt auch gleich an da8- 
selbe herauszuschlagen, um möglichst rasch die allgemeine 
Form zu gewinnen, von welcher seiner künstlerischen Vor- 
stellung eine zureichende Anregung zur weiteren Durch- 
bildung des gewählten Motivs zuströmen kann. 
Hat er nun eine Vorstellung, sei es mit, sei es ohne 
Modell-Skizze, so sucht er mit leidenschaftlicher Hast zu der 
gedachten Form durchzudringen, und es ist bei ihm beinahe 
Regel, daß schließlich an irgend einex Stelle der Stein- 
umfang sich unzulänglich erweist, und daß ein Teil der 
beabsichtigten Form jenseits der Oberfläche sich in das 
Leere zu verlieren droht. In diesem Fall hilft sich Michel- 
angelo entweder damit, daß er die betreffende Partie un- 
vollendet läßt, da die Phantasie des Beschauer8 das noch 
vorhandene, scheinbar genügende Material als Unterlage zur 
folgerichtigen Weiterbildung der Gestalt benützen kann und 
muß, während sie vor der Thatsache eines augenscheinlichen 
Mangels, wie ihn eine solche Partie bei voller Ausführung
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.