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Michelangelo
Übersehen wir die Reihe der plastischen Arbeiten Michel-
angelo8, so stoßen wir auf eine durchgehende Eigenschaft,
die in keinerlei künstlerischen Absicht ihren Grund findet,
sondern im hastigen Temperament des Urhebers, welcher Kon-
zeption und Ausführung in einer Weise verknüpft, daß diefe
beiden Faktoren sich nicht in herkömmlicher Weise zu decken im
stande sind. Jh meine nämlich die in der Regel unzuläng-
liche Kalkulation im gegebenen Umfang des Rohmaterials.
Michelangelo macht offenbar keine Modelle in der
Größe des auszuführenden Werkes, um dann mit deren
Maßen den Marmorblo> auszusuchen, sondern mit Hilfe
einer kleinen Thon- oder Wachsskizze, ja gewiß manchmal
ohne eine solche, denkt er sich direkt in einen vorhandenen
Blo> sein plastisches Gebilde und fängt auch gleich an da8-
selbe herauszuschlagen, um möglichst rasch die allgemeine
Form zu gewinnen, von welcher seiner künstlerischen Vor-
stellung eine zureichende Anregung zur weiteren Durch-
bildung des gewählten Motivs zuströmen kann.
Hat er nun eine Vorstellung, sei es mit, sei es ohne
Modell-Skizze, so sucht er mit leidenschaftlicher Hast zu der
gedachten Form durchzudringen, und es ist bei ihm beinahe
Regel, daß schließlich an irgend einex Stelle der Stein-
umfang sich unzulänglich erweist, und daß ein Teil der
beabsichtigten Form jenseits der Oberfläche sich in das
Leere zu verlieren droht. In diesem Fall hilft sich Michel-
angelo entweder damit, daß er die betreffende Partie un-
vollendet läßt, da die Phantasie des Beschauer8 das noch
vorhandene, scheinbar genügende Material als Unterlage zur
folgerichtigen Weiterbildung der Gestalt benützen kann und
muß, während sie vor der Thatsache eines augenscheinlichen
Mangels, wie ihn eine solche Partie bei voller Ausführung