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Raimund und Nestroy
(Walhalla 1870, Nr. 101)
Die rasch aufeinander folgenden Aufführungen eines
Raimundschen und eines Nestroyschen Stückes („Der Ver-
sc<wender“ und „Die Launen des Glücks“) gaben uns ein
recht lebhaftes Bild von dem leichtlebigen Wiener Drama,
das gegenwärtig fast allein in Deutschland eine historisch
verfolgbare generelle Eigenart aufzuweisen hat und unter
der planlosen Fülle lokaler und ein allgemeines Verständnis
beschränkfender Eigenschaften und Herkömmlichkeiten (welche
das strenge dramatische Band immer etwas locker halten)
einen gesunden, auf guter Tradition beruhenden , fünsftle-
vischen Körper verbirgt. Mit viel Erfahrung, nicht geringem
Formensinn und reicher poetischer Phantasie, aber ohne littera-
rische Unsterblichkeit8zwecke und jene Selbstverehrung und Ein-
bildung, welche gegenwärtig so viele doktrinäre Litteratoren,
die nach dem Rechenbuche fechten gelernt haben, auf das hohe
Roß der Tragödie sezt und nach trügerischen Sternen jagen
läßt, suchte der sorglose, aber auf sicheren Wegen einher-
schreitende Raimund lediglich einem erkannten, vielleicht
ephemeren Bedürfnisse gerecht zu werden. Er löste seine
Aufgabe so glücklich und mit so vielem künstlerischen Takt,
mit so viel reicher, wirksamer Phantasie und heiterer Gewalt-
thätigfeit gegenüber der traditionellen Form, deren innerstes
Wesen er wie wenige klar erfaßt hatte, daß sich die mo-
dernen Honoratioren der dramatischen Poesie, welche durch
Partei- und Selbstwahl auf die leeren Siße des Deutschen
Parnaß gekommen sind und deren Gedankertiefe und sublimes
Gefühl, so wie es die Bretter betritt, gewöhnlich unbegreiflich
kraftlos verschwimmt und versinkt, ungeniert ein Beispiel
daran nehmen dürfen. Was würde ein Franzose der klassi-