Full text: Systematische Rechtswissenschaft (Teil 2, [Häflte 2], Abteilung 8)

84 RUDOLPH SOHM: System des bürgerlichen Rechts. 
sein, in dem auch die arbeitende Menge sich ohne Vorbehalt in den Dienst 
des nationalen Gedankens stellt. 
Die Bedeutung, die dem Arbeiterstande für die Kraftentwickelung 
des Deutschen Reichs zukommt, ist schon jetzt in unserem Recht, auch 
in unserem bürgerlichen Rechte sichtbar. Dem Gedanken der Freiheit 
des Einzelnen, den der dritte Stand in die Welt gesetzt hat, ist der 
soziale Gedanke an die Seite getreten, der dem vierten Stande entgegen- 
kommt. 
Die Zeit, in der wir leben, ist eine kapitalistische. In dem geldwirt- 
schaftlichen Verkehre liegt die wirtschaftliche Grundlage unserer Macht. 
Dieser Tatsache muß das Recht, an erster Stelle das bürgerliche Recht, 
gehorchen. Das Recht des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist darum ein 
kapitalistisches Recht. Das kann’ gar nicht anders sein. Das liegt heute 
im Interesse aller Volksklassen. Denn so das Ganze des Volks nicht 
Kraft hätte, woher sollte Kraft für die einzelnen Glieder kommen? Darum 
hat das Bürgerliche Gesetzbuch die Rechte des Gläubigers gegenüber 
dem (schuldhaft) in Verzug befindlichen Schuldner gesteigert (oben S. 42); 
darum werden alle Sachenrechte, auch die Rechte am Grundstücke, als 
Geldwert bedeutende Rechte behandelt (oben S. 60); darum bevorzugt 
das Bürgerliche Gesetzbuch den Schutz des gutgläubigen Erwerbers vor 
dem Schutz des bestehenden Eigentums (oben S. 30, 57—50). Mit dem 
geldwirtschaftlichen Verkehr ist das Freiheitsbedürfnis des Einzelnen ver- 
bunden; darum ist das Eigentumsrecht und das Besitzrecht des Bürgerlichen 
Gesetzbuchs demokratisch geartet (oben S. 14, 34). Auf dem Gebiete des 
Schuldrechts gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit (oben S. 38), auf dem 
Gebiete des Familienrechts die gehobene Rechtsstellung der Frau, auch 
der Kinder (oben S. 21, 73, 77), auf dem Gebiete des Erbrechts die Freiheit 
der Verfügung von Todes wegen unter Wahrung des Grundsatzes der 
Gleichberechtigung der Kinder (oben S. 80, 81), und auch die Richtung 
unseres Bürgerlichen Gesetzbuchs auf die Trennung des kirchlich-religiösen 
Lebens vom Rechtsgebiet (oben S. 66 ff.) hat mit dem Freiheitsgedanken 
Zusammenhang. Aber durch das Gewebe des kapitalistisch-freiheitlichen 
Rechts geht ein Einschlag von sozialer Färbung: der Schutz des Arbeits- 
erwerbs für die Frau in den besitzlosen Kreisen (oben S. 73), der Schutz 
des wirtschaftlich Schwächeren durch die Neugestaltung des Mietrechts 
und des Rechts vom Arbeitsvertrage (oben S. 43 ff.), die Ermöglichung 
einer gesunden Bodenpolitik durch das Erbbaurecht (oben S. 509), die 
Förderung aller sozialen Interessen durch die Fortbildung des Vereinsrechts 
(oben S. 26). In dem Inhalt des Bürgerlichen Gesetzbuchs spiegeln sich 
die der Hebung des ganzen Volkslebens, dem geldwirtschaftlichen Ver- 
kehr, der Freiheit, dem Schutz des Einzelnen zugewandten Leitgedanken 
der bürgerlichen Kultur der Gegenwart.
	        
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