90 RUDOLPH SOHM: Literatur,
kommt nur eine fördernde, begleitende, die neuen Rechtsgedanken zur Aussprache bringende,
formgebende Rolle zu. Damit ward die geschichtliche Rechtswissenschaft, welche die Rechts-
wissenschaft der Gegenwart ist, durch SAVIGNY begründet, Sie eröffnete das Verständnis
zugleich des Gewesenen und des Gegenwärtigen. Sie machte den großen Strom. des Rechtes
von den fernen Jahrhunderten her sichtbar, zugleich seine Richtung, die er in Zukunft
nehmen wird.
Die erste Tätigkeit, die die neue Schule unter SAVIGNYS unmittelbarer Führung
entwickelte, war auf die geschichtliche Erforschung des römischen und des
deutschen Rechtes gerichtet. EICHHORN begründete die Wissenschaft der deutschen
Rechtsgeschichte und des deutschen Privatrechts in unserem Sinn. Der Löwenteil der Arbeit
fiel dem römischen Rechte zu. Das klassische römische Recht, bisher durch die italienische
Wissenschaft und den Usus modernus verdeckt, ward sichtbar in seiner ganzen Schönheit,
V. SAVIGNY selber ließ in seinem „Recht des Besitzes“ (1. Aufl. 1803) das römische Recht
vom Besitzschutz in seiner reinen, künstlerisch vollendeten Gestalt vor den erstaunten Augen
der Zeitgenossen auferstehen. Später schrieb er ein „System des heutigen römischen
Rechtes“, von dem 8 Bände, die allgemeinen Lehren enthaltend, erschienen sind, und ein
„Obligationenrecht‘“ (2 Bände, gleichfalls unvollendet). Die Rechtswissenschaft Deutschlands
fiel dem reinen römischen Rechte zu. PUCHTA, der bedeutendste Schüler SAVIGNYS, schrieb
sein klassisches Pandektenwerk, den Geist des reinen römischen Rechtes in prägnanter Form
zu wirkungsvoller Darstellung bringend. Eine Fülle von hervorragenden Arbeiten, deren
Reihe noch heute nicht abgeschlossen ist, gab der deutschen Rechtswissenschaft die Führung
auf dem Gebiet der römischen, auch auf dem Gebiet der germanischen Rechtsgeschichte,
und an der Hand der geschichtlichen Arbeit erwuchs zugleich eine neue vertiefte Einsicht
in den Inhalt der geschichtlich wirksamen Rechtsbegriffe, so daß mit der Beherrschung des
geschichtlichen Stoffes. eine neue Meisterschaft der Rechtsdogmatik, wiederum durch den
Geist der römischen Juristen befruchtet, sich verband. Den Abschluß der neueren dem
römischen Recht zugewandten rechtsbegrifflichen Arbeit stellt das einflußreiche bedeutende
Pandektenlehrbuch WINDSCHEIDS dar.
Naturgemäß war zunächst mit der Richtung auf das Geschichtliche und Theoretische
eine Einseitigkeit, die Abkehr von dem praktisch geltenden Recht, verbunden. Das reine
Pandektenrecht SAVIGNYS und PUCHTAS, auch das bereits mit neuzeitlichen Rechtsgedanken
durchsetzte Pandektenrecht WINDSCHEIDS konnte nicht das geltende Recht des kommenden
Jahrhunderts sein. In diesen rechtsgeschichtlichen und dogmatischen Studien ward die
wissenschaftliche Kraft geübt, die neuer großer Aufgaben mächtig war. Den neuen Stoff
vermochte die Wissenschaft nicht zu bringen, Und immer stärker ward auch innerhalb der
rein wissenschaftlichen Bewegung die Zuwendung zur Praxis, immer lebendiger das Ver-
langen nach der Behandlung eines nicht bloß künstlerisch vollendeten, sondern tatsächlich
geltenden Rechtes. IHERING gab die neue Losung aus. In seinen geistvollen rechtsgeschicht-
lichen Studien („Geist des römischen Rechtes“), in seinen Ausführungen über den „Zweck
im Recht“ und noch mehr in zahlreichen Abhandlungen über Einzelfragen betonte er
wirkungsvoll den Zusammenhang der geschichtlichen Entwickelung des Rechtes der Gegen-
wart wie der Vergangenheit mit den Bedürfnissen des tatsächlichen Lebens. Die deutsche
Rechtswissenschaft begehrte nach dem Bund mit der Rechtsanwendung.
Alles war bereit. Das Deutsche Reich kam. Das deutsche bürgerliche Gesetzbuch
ward abgefaßt. Eine deutsche Wissenschaft war da, fähig und gewillt, eine Lehrmeisterin
des neuen bürgerlichen Rechts zu werden, das große Gesetzeswerk nicht bloß als Erzeugnis
der Vergangenheit geschichtlich zu verstehen, sondern seinen Inhalt zugleich gedanklich,
begrifflich zu beherrschen, um ihn geschickt zu machen, Träger auch der kommenden Ent-
wickelung zu sein.
Die Literatur zum bürgerlichen Gesetzbuche ist bereits eine sehr umfangreiche,
Die Führung haben die Kommentare und die Lehrbücher, Unter den Kommentaren hat