VII RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft,
unvermeidlich den logischen Primat vor dem ersteren habe, findet sich
bei den Anhängern der. besprochenen Richtung nicht. Und doch ist zu
beachten, daß etwas, das in genetischer Hinsicht als notwendig ver-
ursacht erkannt ist, für die systematische Betrachtung zufällig sein
kann; auch Sinnestäuschungen und inhaltlich schlechtes Wollen entstehen
in historisch notwendigem Prozeß.
Aber auch gegen die Art der genetischen Auffassung der historischen
Rechtsschule bestehen ungelöste Bedenken.
Die Vorstellung von dem „Volke“ als einem beseelten und denkenden
Wesen außer uns würde nur dann wissenschaftlich begründet sein, wenn
sie notwendig wäre, um den Gedanken des menschlichen Gemeinschafts-
lebens einheitlich zu fassen und das soziale Dasein der Menschen als
eigenen Gegenstand zu begreifen und einzusehen. Denn die Vorstellung
eines Dinges als eines denkenden Wesens bedeutet die Übertragung
meines Selbstbewußtseins auf etwas, das ich mir ohne diese übertragende
Vorstellung nicht zu denken vermag, z. B. auf ein Lebewesen, das ein
Mensch ist, wie ich selbst. Nun kann man aber das gesellschaftliche
Leben der Menschen sehr wohl in eigener Methode erhalten und als
Objekt selbständiger wissenschaftlicher Betrachtung einsehen und erforschen,
ohne die Vorstellung zu Hilfe zu nehmen, daß es selbst eine leiblich-
geistige Einheit im Sinne einer überindividuellen Wesenheit sei.
Dazu kommt dieses. Das „Volk“ soll als ein natürliches Ding
neben den Menschen stehen, und sein „Geist“ die gemeinsamen Über-
zeugungen, so auch die des Rechtes, bewirken. Mithin würde es zu
den Gegenständen der Erfahrung zählen und müßte deshalb auch
den Grundgesetzen der Erfahrung unterliegen. Es bleibt aber un-
deutlich, wie ein Volk oder ein anderer menschlicher Verband eine leib-
liche Einheit sein können, da sie doch im Raume nicht angetroffen
werden, und ein „leiblicher“ Gegenstand, der nicht unter der Bedingung
der räumlichen Anschauung stände, einen inneren Widerspruch bedeutet.
Und fernerhin gehört es zu den Grundsätzen der Erfahrung, daß jede Ursache
einer Veränderung selbst wieder die Wirkung einer vorausgegangenen
Ursache ist, so, daß beim Streichen dieser Methode eine einschlägige
Behauptung von objektiver Gültigkeit nicht mehr begreiflich ist. Der
Volksgeist im Sinne der hier erwogenen Lehre wird aber zugleich als
Ursache der Rechtsschöpfungen und Rechtsänderungen aufgestellt und
doch als unbedingte Einheit über dem Wandel der Völkergeschichte be-
hauptet, unabhängig von den einzelnen Veränderungen und von ihnen
selbst nicht verursacht.
Nationale Eigen- Bei allen diesen. Erwägungen ist scharf festzuhalten, daß man nicht
tümlichkeiten. dje „Volksseele“ mit nationalen Eigentümlichkeiten verwechseln
darf, die sich als verhältnismäßig übereinstimmende Eigenschaften der
Angehörigen eines Rechtsganzen beobachten lassen. In diesem Sinne
wird der nationale Charakter oder Geist nicht als ein unveränderliches