202 FRANZ VON LiszT: Strafrecht und Strafprozeßrecht.
erste Hälfte des Jahrhunderts hervorgebracht hat, stützen sich unmittelbar
oder mittelbar auf die jeweils herrschenden philosophischen Systeme. Unter
diesen hat das Hegelsche Lehrgebäude jahrzehntelang der deutschen Straf-
rechtswissenschaft seinen Stempel aufgedrückt. Daß die Antithese zwischen
dem Recht und dem bewußten Unrecht oder dem Verbrechen ihre Lösung
in der Strafe finde, daß das Wesen der Strafe in der Negation des Un-
rechts und damit in der Wiederherstellung des Rechtes bestehe: das ist der
Grundgedanke fast sämtlicher Kriminalisten aus der Mitte des Jahrhunderts.
Koestlin, Berner, Haelschner stehen auf dem Boden der Hegelschen Philo-
sophie. Und es wäre eine verlockende Aufgabe, bei einem der führenden
Kriminalisten aus der zweiten. Hälfte des Jahrhunderts, bei einem, der
wie kein anderer auch heute noch die Gedankenkreise der Jüngeren be-
herrscht, bei A. Merkel, den Einfluß nachzuweisen, den die Hegelsche
Philosophie auf seine gesamte wissenschaftliche Auffassung ausgeübt hat.
Freilich gerade auf die für den Gesetzgeber wie für den Richter
wichtigste Frage blieb jede, auch die Hegelsche, Philosophie die Antwort
schuldig: über Art und Maß der Strafe vermögen sie nichts zu sagen.
Daß dem Unrecht seine Negation entgegengesetzt werden müsse, hatten
sie behauptet, vielleicht auch nachgewiesen; wie diese Negation beschaffen
sein solle, darum kümmerten sie sich nicht weiter. Hier war die Straf-
rechtswissenschaft führerlos. Und darum begnügte sie sich damit, im
Verein mit dem Gesetzgeber das alte Programm der Aufklärungsliteratur
zur weiteren Ausführung zu bringen. Sparsamkeit in der Verwendung der
Strafmittel: das wurde die allgemeine Losung.
Das Strafen- Der Kampf für und gegen die Todesstrafe, den das 1ı8. Jahrhundert
yo, begonnen hatte, wurde wieder aufgenommen und mit den alten Gründen
weitergeführt. Einzelne Staaten haben sie abgeschafft; so Italien, Rumänien,
Portugal, die Niederlande, Norwegen. In allen anderen wurde sie auf ein
wesentlich kleineres Anwendungsgebiet beschränkt, freilich, ohne daß es
dabei gelungen wäre, die schreiendsten Mißverhältnisse und Widersprüche
zu beseitigen. Daß die verstümmelnden Leibesstrafen beseitigt wurden,
versteht sich von selbst. Ebenso, daß die Prügelstrafe, die stets als Standes-
strafe für die unteren Volksschichten angesehen worden war, mit dem
Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz nicht in Einklang gebracht
werden konnte und darum fallen mußte. Auch die eigentlichen Ehren-
strafen, wie die Ausstellung am Pranger und der bürgerliche Tod, wurden
aus dem System der Strafmittel ausgeschieden. So blieben nur die Geld-
strafe und die Freiheitsstrafe. Ausgedehnte Verwendung der F reiheitsstrafe,
unter fortschreitender Abkürzung ihrer Dauer und immer größerer Gleich-
förmigkeit in ihrem Vollzug: in dieser Tatsache tritt die Eigenart des
Strafrechts im 19. Jahrhundert vielleicht am deutlichsten hervor.
Zugleich aber hat gerade auf dem Gebiete der Strafvollstreckung sich
eine völlige Verwirrung herausgebildet. Der Gedanke, durch Freiheits-
entziehung in Verbindung mit zwangsweiser Gewöhnung an regelmäßige