234 FRANZ VON LıIzsT: Strafrecht und Strafprozeßrecht.
Schwurgerichte gegenüber den Ausschlag zu geben, erscheint als äußerst
zweifelhaft.
Eine tiefgehende populäre Strömung verlangt die Zulassung der Be-
rufung gegen alle strafgerichtlichen Urteile der ersten Instanz. Auch
hier aber stellen sich der Verwirklichung dieses Wunsches technische
Bedenken in den Weg. Die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme wird
schon wegen des größeren Sprengels der Berufungsgerichte hier viel
schwerer durchzuführen sein als bei den Gerichten erster Instanz; ein Be-
rufungsurteil aber, das sich ganz oder zum Teil auf den Akteninhalt und
nicht auf die Beweismittel selbst gründet, hat nicht mehr sondern weniger
Wert als das Urteil der ersten Instanz. Dazu kommt, daß die Gestaltung
des Rechtsmittelverfahrens unlösbar zusammenhängt mit der erstinstanz-
lichen Gerichtsverfassung. Wirken Laien bei allen erstinstanzlichen Urteilen
mit, so kann man die Berufung nicht gut an die bloß mit Beamten
besetzten Obergerichte leiten.
Derselben Unsicherheit begegnen wir, wenn wir die Vorschläge
nach einer Umgestaltung des Vorverfahrens mit Einschluß der Versetzung
in den Anklagezustand ins Auge fassen. Auch hier herrscht in allen un-
befangenen Kreisen die Überzeugung, daß die heutige Gestaltung der
Voruntersuchung ebenso unhaltbar ist wie die Einrichtung des Eröffnungs-
verfahrens. Die Voruntersuchung versagt dem Angeschuldigten und seinem
Verteidiger die Einwirkung auf die entscheidenden Beweisaufnahmen; sie
macht den Untersuchungsrichter zum unmittelbaren Nachfolger des alten
Inquirenten, indem sie ihm die Sammlung des Belastungs- wie des Ent-
lastungsmaterials und zugleich die richtige Abwägung des Ergebnisses
überträgt; sie führt zu einer Vergeudung der Kraft, indem sie dem Staats-
anwalt, der ja auch für die Beschaffung des Entlastungsmaterials zu sorgen
hat, die gleiche Aufgabe wie dem Untersuchungsrichter überträgt; sie ge-
fährdet durch die Gestaltung der Untersuchungshaft die Freiheit des An-
geschuldigten. Und welchen Wert soll ein Eröffnungsbeschluß haben, der
auf Grund eines von dem Referenten erstatteten aktenmäßigen Berichts
ergeht und alle Verantwortung dem erkennenden Richter überweist? So-
bald aber die Frage aufgeworfen wird, was an Stelle des gegenwärtigen
Verfahrens zu setzen sei, ob man den Untersuchungsrichter und mit ihm
die ganze gerichtliche Voruntersuchung beseitigen oder aber diese refor-
mieren solle, ist eine Übereinstimmung der Meinungen nicht mehr zu er-
zielen.
Über die mangelnde technische Vorbildung unserer kriminalistischen
Praktiker, Staatsanwälte und Richter wird seit Jahren geklagt. Die Ver-
folgung, die Untersuchung, die Aburteilung der Verbrechen liegt in den
Händen von Juristen, denen die Kenntnis des Verbrecherlebens, die Ein-
sicht in das Getriebe der Industrie, des Handels, des Bank- und Börsen-
wesens, denen die einfachsten Erfahrungstatsachen der Psychologie und
Psychiatrie, denen aber auch die Fertigkeit in der Aufsuchung und Fest-