II. Kirchenregierung.
Das Reformbedürftige liegt hier an einem einzelnen Punkt, an einem Irrlehre.
Zentralnerv allerdings des evangelisch kirchenrechtlichen Systems. Es ist
die Behandlung der Irrlehre als Disziplinarstraftatbestand. Nicht daran
ist Anstoß zu nehmen, daß an und für sich eine Grenze der Lehr- und
Gewissensfreiheit auch hier gezogen wird. Das ist vielmehr selbstverständlich
und notwendig. Der rechtlich organisierten Kirche gegenüber muß die
Stellung des Geistlichen im Glaubensgebiete eine von derjenigen des Laien
grundsätzlich verschiedene sein. Der Pfarrer hat hierin eine persönliche
Verantwortlichkeit, welche der Laie nicht zu tragen hat. Er ist Organ
der Kirche. Er steht in einem besonderen Dienstverhältnis und konkreten
Pflichtenkreis. Dieser Pflichtenkreis ist durch Zweck und Inhalt des geist-
lichen Amtes objektiv bestimmt. Er ist also unabhängig von der Selbst-
bestimmung und Willkür des Amtsinhabers. Der redliche Sinn auch der
weitestgehenden ordinatorischen Verpflichtung schließt eine schrankenlose
Geltendmachung des individuellen Glaubens und Meinens gegenüber Lehre
und Bekenntnis der Kirche aus. Der Schluß ist unvermeidlich, daß auch
die evangelische Kirche offenkundige Irrlehrer im geistlichen Amte nicht
dulden kann. Die Zumutung des Gegenteils wäre die Forderung der
Selbstauflösung der Kirche.
Ein anderes aber ist die Frage nach den Mitteln der Lösung eines
solchen Konflikts. Weitverbreitet wird gefordert: Selbstverzicht auf das
Amt. Gewiß die einfachste und eine für manche Fälle billige und red-
liche Lösung. Aber nicht immer ist sie zu verlangen. Der Streit kann
eben darum sich drehen, ob nicht die abweichende Lehre die wahre Lehre
der Kirche sei, oder ob sie nicht wenigstens innerhalb eines Freigebietes
liege, welches noch wohl vereinbarlich ist mit redlicher Erfüllung der
Amtspflicht. Das Recht muß also für alle Regelfälle die Mittel der un-
freiwilligen Lösung des Konflikts vorsehen. Hier liegt der Anlaß zur
Beschwerde und die Forderung der Reform. Das bestehende Recht be-
handelt Irrlehre als „Disziplinarvergehen“. Mit dieser Ordnung ist der
Protestantismus noch tief im kanonischen Recht verstrickt. Instinktiv
wird dies vom evangelischen Bewußtsein gefühlt. Daher die Aufregung,
die Unruhe des öffentlichen Gewissens, die nicht selten bis zur Ungerechtig-
keit gegen die Kirchenregimentsbehörden sich steigernde Kritik. Sie ver-
fehlt das Ziel. Die Kirchenregimentsbehörden trifft keine Verantwortlich-
keit. Das Recht selbst ist schuldig. Es hat sein Verhältnis zum Glaubens-
gebiet im Innersten verkannt. Es hat sich vom System der Glaubens-
verbrechen noch nicht frei gemacht. Nach evangelischer Grundauffassung
kann Lehrabweichung kein strafbarer Tatbestand sein. Glaube
ist ein in innerlich freier Stellung zu Gott gewonnenes Verhältnis. Also
kann Unglaube oder Irrglaube nicht ein vor menschlichen Richtern nach
Art begangener strafbarer Handlungen zu verantwortendes Verhalten sein.
Irrlehre keine Disziplinarsache. Disziplinarvergehen ist äußerlich meßbare
Verletzung der Dienstpflicht: Amtsungehorsam, Nachlässigkeit, Untreue,
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