Full text: Systematische Rechtswissenschaft (Teil 2, [Häflte 2], Abteilung 8)

II. Kirchenregierung. 
Das Reformbedürftige liegt hier an einem einzelnen Punkt, an einem Irrlehre. 
Zentralnerv allerdings des evangelisch kirchenrechtlichen Systems. Es ist 
die Behandlung der Irrlehre als Disziplinarstraftatbestand. Nicht daran 
ist Anstoß zu nehmen, daß an und für sich eine Grenze der Lehr- und 
Gewissensfreiheit auch hier gezogen wird. Das ist vielmehr selbstverständlich 
und notwendig. Der rechtlich organisierten Kirche gegenüber muß die 
Stellung des Geistlichen im Glaubensgebiete eine von derjenigen des Laien 
grundsätzlich verschiedene sein. Der Pfarrer hat hierin eine persönliche 
Verantwortlichkeit, welche der Laie nicht zu tragen hat. Er ist Organ 
der Kirche. Er steht in einem besonderen Dienstverhältnis und konkreten 
Pflichtenkreis. Dieser Pflichtenkreis ist durch Zweck und Inhalt des geist- 
lichen Amtes objektiv bestimmt. Er ist also unabhängig von der Selbst- 
bestimmung und Willkür des Amtsinhabers. Der redliche Sinn auch der 
weitestgehenden ordinatorischen Verpflichtung schließt eine schrankenlose 
Geltendmachung des individuellen Glaubens und Meinens gegenüber Lehre 
und Bekenntnis der Kirche aus. Der Schluß ist unvermeidlich, daß auch 
die evangelische Kirche offenkundige Irrlehrer im geistlichen Amte nicht 
dulden kann. Die Zumutung des Gegenteils wäre die Forderung der 
Selbstauflösung der Kirche. 
Ein anderes aber ist die Frage nach den Mitteln der Lösung eines 
solchen Konflikts. Weitverbreitet wird gefordert: Selbstverzicht auf das 
Amt. Gewiß die einfachste und eine für manche Fälle billige und red- 
liche Lösung. Aber nicht immer ist sie zu verlangen. Der Streit kann 
eben darum sich drehen, ob nicht die abweichende Lehre die wahre Lehre 
der Kirche sei, oder ob sie nicht wenigstens innerhalb eines Freigebietes 
liege, welches noch wohl vereinbarlich ist mit redlicher Erfüllung der 
Amtspflicht. Das Recht muß also für alle Regelfälle die Mittel der un- 
freiwilligen Lösung des Konflikts vorsehen. Hier liegt der Anlaß zur 
Beschwerde und die Forderung der Reform. Das bestehende Recht be- 
handelt Irrlehre als „Disziplinarvergehen“. Mit dieser Ordnung ist der 
Protestantismus noch tief im kanonischen Recht verstrickt. Instinktiv 
wird dies vom evangelischen Bewußtsein gefühlt. Daher die Aufregung, 
die Unruhe des öffentlichen Gewissens, die nicht selten bis zur Ungerechtig- 
keit gegen die Kirchenregimentsbehörden sich steigernde Kritik. Sie ver- 
fehlt das Ziel. Die Kirchenregimentsbehörden trifft keine Verantwortlich- 
keit. Das Recht selbst ist schuldig. Es hat sein Verhältnis zum Glaubens- 
gebiet im Innersten verkannt. Es hat sich vom System der Glaubens- 
verbrechen noch nicht frei gemacht. Nach evangelischer Grundauffassung 
kann Lehrabweichung kein strafbarer Tatbestand sein. Glaube 
ist ein in innerlich freier Stellung zu Gott gewonnenes Verhältnis. Also 
kann Unglaube oder Irrglaube nicht ein vor menschlichen Richtern nach 
Art begangener strafbarer Handlungen zu verantwortendes Verhalten sein. 
Irrlehre keine Disziplinarsache. Disziplinarvergehen ist äußerlich meßbare 
Verletzung der Dienstpflicht: Amtsungehorsam, Nachlässigkeit, Untreue, 
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