256 WILHELM KAHL: Kirchenrecht.
Vergehen im Amt durch Unterschlagung, Unsittlichkeit usw. Es ist un-
erträglich, daß nach gleichem Verfahren wie ein ungetreuer, ehebrecherischer
oder trunkener Pfarrer derjenige Geistliche behandelt werden soll, der im
ehrlichen Ringen um die Wahrheit von der von der Kirche bekenntnis-
mäßig formulierten Wahrheit abgekommen ist. Es fehlt die Grund-
voraussetzung aller Strafverantwortlichkeit: die Schuld, das Unrecht im
menschlichen Sinne. Dieses Mißverhältnis muß gelöst werden. Die Lösung
ist Lebensfrage für die evangelische Kirche.
Reform des Ver. Ich kenne zurzeit nur einen gangbaren Weg, auf den ich schon
rn öfters hingewiesen habe, und auf welchen ich hinzuweisen gedenke, bis
etwas geschehen ist. Die Irrlehre muß aus dem Tatbestand der Disziplinar-
gesetze heraus und ihre Behandlung einem Sonderverfahren unterstellt
werden, welches neben der juristischen Konsequenz auch die geistliche
Natur und Freiheit evangelischen Kirchenwesens zur Geltung kommen
läßt. Hierfür muß die sachgemäße Form des Verfahrens und das zu-
treffende materielle Prinzip der Entscheidung ermittelt werden.
In ersterer Beziehung ist davon auszugehen: auch der offenbare Irr-
lehrer kann nicht zur Strafe seines Amtes entsetzt werden; denn er hat
kein Verbrechen begangen. Vielmehr sollte für diesen Fall ohne allen
entwürdigenden und strafenden Beigeschmack die Erledigung des Kirchen-
amts als objektive Selbstfolge des Tatbestandes nachgewiesener Irrlehre
im Gesetze ausgesprochen sein. Es handelt sich also darum, daß und wie
dieser Tatbestand festgestellt werde. Nicht durch ein Disziplinarstrafgericht,
sondern durch eine für diesen Zweck besonders zu bildende Kirchen-
instanz: zusammengesetzt aus Vertretern des Kirchenregiments, der Synoden,
der theologischen Wissenschaft und der beteiligten Gemeinde. Diese Zu-
sammensetzung wäre nur der verfassungsmäßige Ausbau eines evangelischen
Rechtsgedankens, welcher schon jetzt, nur in ganz unvollkommener Weise,
seinen Ausdruck darin gefunden hat, daß nach Landeskirchenrecht bei
Entscheidungen über Irrlehre eines Geistlichen Synodalvorstände in unterer
und oberer Instanz mitzuwirken haben. Diese Feststellungsbehörde
habe die höchste kirchliche Funktion zu verrichten, das „Lehre Urteilen“.
Sie habe namens der Kirche, allein mit Verantwortlichkeit vor Gott und
ihrem Gewissen, inappellabel festzustellen, ob jener Tatbestand vorliege.
Sie habe nur die Frage zu entscheiden, ob das Verbleiben des Geistlichen
im Amte mit der Lehrnorm der Kirche und dem Interesse der Gemeinde
weiterhin vereinbarlich ist. Verneint sie diese Frage, so trete die Amts-
erledigung kraft objektiver Wirkung des Gesetzes, nicht der Amtsverlust
kraft richterlichen. Schuldspruchs ein, als ipso jure Folge‘ des Umstandes,
daß die Voraussetzung der Amtsverleihung in ihrem wesentlichsten Punkte
in Wegfall gekommen ist. Gestattet es die Vermögenslage der Kirche,
so wäre noch besonders vorzusehen, daß einem solchen Geistlichen ein
nach Billigkeit und Umständen zu bemessender Unterhalt für bestimmte
Zeit zu gewähren ist.