II. Kirchenregierung.
Erst die weitere Frage freilich, nach welchem materiellen Prinzip Materielle
jene Lehrinstanz ihre Entscheidung zu suchen hätte, enthüllt den Kern Grem® de
des schwierigen Problems und die ungeheure Kluft der Anschauungen.
Auf allen Synoden der Gegenwart wird um dieses Prinzip gerungen. Ich
kann auch hier nur einen oft vertretenen Standpunkt wiederholen. Die
reformatorischen Bekenntnisschriften als Ausdruck des wesentlichen Schrift-
verständnisses der evangelischen Kirche sind menschlichen Ursprungs.
Sie unterliegen hiernach unvermeidlich der Möglichkeit einer geschicht-
lichen, d.h. mit Erweiterung und Vertiefung der theologischen Erkenntnis
fortschreitenden Entwickelung. Der evangelische Begriff von Lehre und
Irrlehre ist nicht kanonisch stereotypiert. Es bleibt daher ein weites Frei-
gebiet der Auslegung. Der Katholizismus kennt dieses Gebiet nicht.
Lehre und Irrlehre sind ins Kleine durch eine unfehlbare Gewalt in recht-
lich zwingender Weise festgestellt und immerwährend festzustellen. Der
Tatbestand der Häresie ist in jedem Augenblick klar. In der evangelischen
Kirche nicht. Aus dieser Verschiedenheit der Glaubensnorm hätte jene
lehrurteilende evangelische Kircheninstanz die gewissenhafte Folgerung
zu ziehen. Die Bekenntnisse haben nicht den Inhalt und nicht die rechts-
verbindliche Kraft von Gesetzen. Der Pfarrer kann nicht verbal und
formal juristisch daran zu binden sein. Das Geistliche will geistlich
gerichtet werden. Die viel stärkere ethisch-religiöse Gebundenheit
des evangelischen Pfarrers besteht darin, daß er das in Freiheit ihm an-
vertraute Bekenntnis zum Aus- und Aufbau der Gemeinde verwaltet,
nicht zu ihrer Zerstörung. Das ist der evangelische Maßstab. Ob der
Geistliche bekenntnismäßig lehre, kann sich nicht nach der Summe der
von ihm in einer bestimmten Auffassung für wahr gehaltenen und vor-
getragenen Einzelsätze, sondern allein danach bemessen, mit welcher
Frucht das von ihm Gelehrte geeignet sei, dem Aufbau der evangelischen
Gemeinde zu dienen. Es ist nicht geeignet, der Gemeinde zu dienen,
wenn an Stelle der Position die Negation gereicht wird, an Stelle der
Erbauung die Kritik, an Stelle der schlichten Grundwahrheiten des Evan-
geliums das kompliziert Spekulative, an Stelle des religiösen Gehaltes
die theologische Formulierung, an Stelle der Friedensbotschaft der wissen-
schaftliche Streit, an Stelle der Offenbarung die Vernunft, an Stelle des
Wortes Gottes die Autorität des Ich. Der Einwand kann nicht gelten,
diese Norm sei zu weit, zu unbestimmt. Sie ist eng und bestimmt genug,
um aus dem Gesamtbilde an jedem Tatbestand des Einzelfalles festzustellen,
ob ein aufbauender Dienst an der Gemeinde im Segen weiter möglich ist
oder nicht. Darauf allein kommt es zuletzt an. Wer weitere Garantien,
rechtliche Kriterien der Orthodoxie, Buchstabenglauben und ähnliches ver-
langt, betritt einen Weg, welcher unvermeidlich im kanonischen Recht endet.
Es gibt keine Gesetzgebungsfrage für die nächste Zukunft der evangelischen
Kirche, welche dringender wäre, als diese. Hier liegt in Wahrheit das verant-
wortungsvollste Problem ihrer Kulturentwickelung auf geistlichem Gebiet.
DıE KULTUR DER GEGENWART. II. 8.
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