C. Begriff und Geltung des Rechtes. II. Recht und Willkür. XXVII
als „neuer, rechtmäßiger Bestandteil übergehn“; — da aber ein „krankhaftes“
Recht doch auch schon ein „Recht“ ist, so liegt letzteres bereits vor,
sobald neues soziales Wollen dem formalen Begriffe des Rechtes ent-
spricht. Binding gibt bei der Besprechung der Gründung des Norddeutschen
Bundes die Erklärung, daß darum dort originär „Recht“ entstehen konnte,
weil das Volk und die Regierungen die Verfassung des Bundes in der
Absicht vereinbarten, von einem bestimmten Tage an sich gemeinsam unter
das Gesetz ihres gemeinsamen Willens zu stellen; — eine Auskunft, die
aber doch offenbar eine allgemeingültige Möglichkeit, neues Recht
zu begründen, bereits voraussetzt und nur als die Einzelanwendung eines
abstrakten Gesetzes über mögliche Rechtsentstehung überhaupt aufzu-
treten vermag. — Darum kann eine erschöpfende Erklärung nur durch
ein Zurückgehen auf die Frage geliefert werden: Woran erkennt man
überhaupt, ob etwas „Recht“ ist? Indem darauf mit dem soeben ent-
wickelten formalen Merkmal geantwortet wird, so ergibt sich auch die
Lösung, daß in originärer Weise, vielleicht durch unmittelbaren Rechts-
bruch, deshalb neues Recht entstehen kann, weil und soweit die neu
gesetzte Regelung jenes formale Kriterium in sich trägt. Jene außerhalb
des seitherigen Rechtes entstandenen Normen stellen dann neues Recht
dar, sobald sie im Sinne eigener Unverletzbarkeit das seitherige Recht
beseitigen, sei es auch derartig, daß sie die bis dahin geltende Rechts-
quelle im Wege brutaler Gewalt gegen diese wegschaffen.
Zum anderen folgt aus dem Gesagten, daß eine Unverletzbarkeit des Begrenzte Un-
Rechtes bloß in begrenzter Weise behauptet werden kann. Sie ist nur Tr
vorhanden während des Geltens der fraglichen Rechtsregel. Dagegen
kann diese letztere jederzeit abgeändert werden, sei es auf verfassungs-
mäßigem Wege oder auch durch eine ursprüngliche Rechtssetzung. Nur
dem willkürlichen Brechen im einzelnen Falle widerstrebt die Un-
verletzbarkeit, — dahin also, daß dieses Recht als solches bestehen
bleibt und doch während seines Geltens nicht verwirklicht, sondern
gebeugt und gebrochen wird: gegen das Abschaffen des vorhandenen
Rechtes und sein Ersetzen durch neues Recht, gleichviel in welchem
Prozesse das vor sich geht, gewährt die Eigenschaft einer Regel als einer
„rechtlichen“ keine Sicherheit. Eine unbedingte Heiligkeit und absolute
Unabänderlichkeit kommt auch keineswegs der „Verfassung“ eines Gemein-
wesens zu. Auch wenn diese, wie die unseres Reiches, sich als eine „ewige“
bezeichnet, so kann die Möglichkeit ihrer Abänderung und Ersetzung
durch neues Recht — bestimmt nach dem formalen Begriffe des Rechtes
überhaupt — ja niemals ausgeschlossen werden.
Mit diesen Erwägungen ist die logische Analyse des Rechtsbegriffes
abgeschlossen. Die formalen Bedingungen, unter denen dieser besteht,
führen in das Reich der Zwecke, danach zu dem Gebiete des sozialen
Wollens, um darin in der Unterscheidung von konventionaler Auf-
forderung einerseits und willkürlicher Anordnung anderseits festgelegt