432 FERDINAND VON MARTITZ: Völkerrecht.
irgendeines Staates, ja daß sie gesicherter sind und seltener verletzt
werden als die innere Rechtsordnung in den meisten Staaten.
Die zu dem völkerrechtlichen Verbande zusammengeschlossenen Staaten
sind weit davon entfernt, den namentlich in der Literatur der Deutschen
und der Engländer immer wieder erhobenen Bedenken gegen die Positivität
des von ihnen in täglicher Anwendung geübten internationalen Rechtes
irgendeine Bedeutung beizulegen. Sie sehen in diesem nichts anderes
als den formellen Ausdruck der zwischen ihnen bestehenden Verkehrs-
gemeinschaft. Kein Staat, auch der mächtigste nicht, vermag sich von
den anderen, die mit ihm gleichartige Zwecke verfolgen und ‘gleichen
Wesens sind, zu isolieren. Keiner vermag die ihm obliegenden Aufgaben
wirtschaftlicher und geistiger Kultur einseitig‘ von sich aus, sondern. nur
unter dem Entgegenkommen der anderen zu lösen. Durch die politischen
Grenzen läßt sich ihr Kulturleben nicht absperren. Als Kulturträger sind
die Staaten um ihrer selbst willen aufeinander angewiesen; sie sind
genötigt, auch die Formen und Bedingungen für ein im voraus berechen-
bares Zusammenwirken herzustellen und zu sichern. Besteht nun aber
zwischen ihnen eine ständige, nicht aufhebbare Verkehrsgemeinschaft, so
ist damit das Anerkenntnis einer äußeren Ordnung gegeben, welche gegen-
über staatlicher Einzelfreiheit das Gemeinschaftsinteresse zu rechtlicher
Das Völkerrecht Wirksamkeit bringt. Eine solche Ordnung ist das Völkerrecht. Indem
Verkehrsrecht, g;o Staaten gewohnt sind, ihren gegenseitigen Verkehr auf.den von ihm
hergestellten Grundlagen zu führen, sind sie von dem Bewußtsein erfüllt,
die Glieder einer Rechtsgemeinschaft zu sein, die von dem Wollen des
einzelnen Landes unabhängig ist. Sie folgen in ihrem Verhalten zuein-
ander einer rechtlichen und keiner anderen Notwendigkeit.
Das Völkerrecht Sonach trägt das Völkerrecht, wie jedes Recht, den juristischen Cha-
Pe daanat rakter einer Friedensordnung. Es gewährt jedem Genossen, auch dem
kleinsten Lande, in gleichem Maße und in gleicher Kraft Rechtsschutz
für seinen Bestand, seine Angehörigen, sein Machtgebiet, seine Freiheit.
Jedes Unternehmen einer Macht, den anderen Staaten durch Anmaßung
einer Universalherrschaft zu Lande oder auf dem Meere Gesetze vorzu-
schreiben, wäre ein Bruch des allgemeinen Friedens; und die schuldhafte
Verletzung des einem Staate zustehenden Anspruchs durch eine fremde
Regierung ist ein ihm zugefügtes Unrecht. Nur freilich das Völkerrecht
ist eine unentwickelte Friedensordnung. Denn es hat weder eine Reaktion
der Gesamtheit gegen den Friedensstörer noch Anstalten für die Friedens-
bewahrung ausgebildet; auch der ungerechte Krieg begründet einen
Kriegszustand. Und. für den‘ verletzten Staat. gibt es keine andere
Möglichkeit, seinen Anspruch dem Widerstrebenden gegenüber zwangs-
weise durchzusetzen als die Befugnis, ihm den Frieden zu kündigen und
sich Genugtuung auf dem Wege‘ der Eigenmacht zu verschaffen. Es fehlt
die Organisation des Rechtszwanges, die richterliche Feststellung be-
gangenen Unrechts und seiner Rechtsfolgen, für deren Mangel ein ver-