2 RUDOLPH SoHM: Bürgerliches Recht. — Einleitung.
Einzelpersönlichkeit. Sie nimmt die Führung der Volksentwickelung in die
Hand. Sie sieht und ergreift die höheren Ziele des Bildungslebens. Sie
ist zugleich auch für die anderen die Weckerin und Leiterin zu edlerem
Dasein. Sie ist es, die den Göttern das Feuer entwendet, um der
ganzen Nation mit heller Fackel voranzuleuchten. In der Entfaltung von
freien, führenden Einzelpersönlichkeiten beruht die Kraft und das Auf-
steigen des nationalen Lebens, beruht die Entwickelung der Kultur. Je
größer die Zahl der ausgebildeten und damit wahrhaft gebildeten Einzel-
persönlichkeiten, um so höher ist die Kraft des Volkes, um so inhaltreicher
sein Kulturleben. Für das Dasein solcher Persönlichkeiten aber ist das
private Eigentum, die private Familie die unentbehrliche Voraussetzung.
Das Privatrecht schafft der Einzelpersönlichkeit den Boden, in dem sie
wurzeln, den Raum für freie Bewegung, in dem sie atmen kann. Ohne
Einzeleigentum keine für das nationale Leben wirkungskräftige Einzel-
persönlichkeit. Darin liegt die Rechtfertigung des Privatrechts, des
privaten Eigentums. Vom Standpunkt einer lediglich den isolierten Ein-
zelnen betrachtenden Ethik kann das Privateigentum niemals ausreichend
begründet werden. Denn der isolierte Einzelne hat als solcher keinerlei
moralischen Anspruch, auf Grund dessen er wirtschaftliche Güter über
das für die Lebensnotdurft unbedingt erforderliche Maß hinaus für sich
allein fordern könnte, um sie anderen gleich Bedürftigen zu versagen.
Nur für den als Mitglied seines Volkes betrachteten Einzelnen rechtfertigt
sich das Privateigentum. Damit das Volksleben voranschreite, damit
geistige Güter ihren Glanz über das nationale Leben breiten, damit das
Volk wachse an Fülle und Kraft des Daseins, dazu bedarf es des Privat-
rechts, das eine Reihe von Einzelnen nach oben führt, damit das von
ihnen Gewonnene wiederum allen zugute komme. Um des Volkes, um
der nationalen Macht, um der nationalen Bildung willen ist das Privat-
recht trotz aller Schatten, die es mit sich führt, unentbehrlich und damit
gerechtfertigt. Das Privatrecht der Gegenwart ist die notwendige VorauSs-
setzung für die Kultur der Gegenwart,
Il. Bäuerliches und bürgerliches Privatrecht. In der Ent-
wickelung unseres Privatrechts können wir zwei große Stufen unterscheiden.
Die eine ist die Stufe des bäuerlichen, die andere die des bürgerlichen
Privatrechts.
Bäuerliches und Das deutsche Privatrecht des Mittelalters war bäuerlicher und zugleich
ee ritterlich-adliger Art. Der Landmann hatte es hervorgebracht: der Bauers-
mann und der aus der Zahl der Bauern emporgestiegene Edelmann. Die
Kraft des deutschen Volkes wohnte auf dem Lande. Das deutsche Privat-
recht des Mittelalters war Landrecht. Es war das Recht einer natural-
wirtschaftlichen Zeit. Sein Interesse war der Besitz, insbesondere der
Grundbesitz, — nicht der Verkehr. Das Landrecht war nach den einzelnen
Stammesgebieten (Ländern) verschieden. Es gab während des ganzen