90 & 11. Anfänge metaphysischer Systembildung. 
bestehen: die Analyse bleibt unvollendet —- ein allgemeiner 
Wertmaßstab für unser Wollen und Handeln wird nur in 
Aussicht gestellt, aber nicht tatsächlich gewonnen. 
Mit den Versuchen, diesem Mangel abzuhelfen, das tugend- 
hafte Verhalten als das Leben in Übereinstimmung mit 
dem natürlichen Gesetz näher zu bestimmen und schließlich 
eben dieses Gesetz als ein dem menschlichen Denken eigen- 
tümliches Vernunftgesetz aufzuzeigen, wird der Übergang 
zur Entwicklung einer consequenten psychologisch-empiristi- 
schen Ethik angebahnt, die freilich durch den Einfluß meta- 
physischer Überzeugungen noch lange Zeit behindert und aus 
ihrer Bahn gelenkt wird. 
8 11. Anfänge metaphysischer Systembildung. 
Wir wenden uns zur Betrachtung der einzelnen Stufen, 
in welchen sich die im Vorigen skizzierte Entwicklung des 
philosophischen Denkens vollzieht. 
Wir fanden die primitive Phase dieser Entwicklung dadurch 
charakterisiert, daß die naturalistisch vorausgesetzte Welt des 
objectiven Seins noch nicht zu den Bewußtseinser- 
scheinungen als solchen in Gegensatz getreten ist, daß viel- 
mehr alle Erscheinungen ohne weiteres auf die Dinge der 
objectiven Welt bezogen als Vorgänge an eben diesen Dingen 
gedeutet werden. Indem sich hiernach alle Fragen von vorn- 
herein in die Form von Fragen über die objectivre Welt 
kleiden, wird die Erklärung des Mannigfaltigen in der ob- 
jectiven Welt zum ausschließlichen Problem der wissenschaft- 
lichen Forschung. 
Das erste Mittel, das sich dem primitiven philosophischen 
Denken zur Lösung dieses Problems darbietet, ist der Begriff 
des einheitlichen, beharrlichen Seins, welches der Man- 
nigfaltigkeit der Erscheinungen zu Grunde gelegt wird. Durch 
einen Begriff dieser Art —— und nur durch einen solchen — 
scheint in der Tat jenes Streben nach Zurückführung des Viel- 
/ältigen auf einheitliche Gesichtspunkte befriedigt zu werden, 
welches bewußt oder unbewußt alle Regungen unseres KEr-