Full text: Einleitung in die Philosophie

96 812. Sein und Schein. Die eleatische und die heraklitische Welt. 
wahre Wesen der Welt, so sind sie eben damit als bloßer 
Schein, als Täuschung erkannt. Dem wahren, einheitlichen 
und beharrlichen Sein tritt somit die Gesamtheit der Erschei- 
nungen als eine Welt bloßen Scheines gegenüber. 
Dieser Gegensatz des wahren Seins ‚auf der einen, seiner 
bloßen Erscheinungen auf der andern Seite muß sich um so 
mehr verschärfen, je weniger die Vermittlung zwischen den 
beiden Gliedern des Gegensatzes sich als positiv möglich er- 
weist, je rätgelhafter die Frage nach der Beziehuug der Er- 
scheinungen zu jenem beharrlichen Sein sich gestaltet. 
Tatsächlich zeigt sich diese Frage bei näherer Betrachtung als 
eine überaus schwierige. Wie soll es zugehen, daß ein ein- 
heitliches, unveränderliches Prineip sich in den verschiedenerlei 
Formen offenbart, wie. sie das Chaos der Erscheinungen un- 
seren Sinnen darbietet? Das Starre, Unveränderliche bietet 
unserem Denken keinen Angriffspunkt, an welchem die Er- 
klärung der Veränderung einsetzen könnte; der Mechanismus, 
durch welchen das einheitliche Sein sich in die Vielheit der 
Erscheinungsformen kleiden soll, hüllt sich in ein undurch- 
dringliches Dunkel. Die Notwendigkeit der Annahme jenes ein; 
heitlichen Prineips einerseits, die Unmöglichkeit andererseits, 
eben dieses Frincips in der Vielheit der Erscheinungen hab- 
haft zu werden, bleiben unvermittelt neben einander bestehen. 
Die beiden Glieder dieses Cegensatzes erhalten alsbald 
noch eine nähere Bestimmung. 
Das gesamte Bild der Welt, welches unsere Sirne uns 
darbieten, setzt sich aus jenen Erscheinungen zusammen, die 
durch den obigen Gedankengang zu einem bloß Scheinhaften, 
Wesenlosen gestempelt werden. Das sinnliche Weltbild also 
ist ein trügerisches: die Wahrnehmungen der Sinne werden als 
eine Fälschung der Welt, als minderwertige Krkenntnisquelle 
entlarvt. 
Zur Erkenntnis des wahren Wesens der Welt, des wahren 
— einheitlichen und beharrlichen —— Seins; das sich unter dem 
Schleier der Erscheinungen verbirgt, kann uns im Gegensatze 
zu jener Täuschung der Sinne nur das reine Denken ver- 
helfen. Nur auf dem Wege des Denkens war ja jener Begriff 
des einheitlichen Weltprineips gefunden worden. Nur im
	        
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