Die Sinnenwelt als Täuschung, 97
Denken also und durch das Denken ist die Wahrheit zu er-
kennen. |
Der Gegensatz des wahren Seins und des bloßen Scheins
ergibt sich also auf der hier betrachteten. Stufe des Denkens
als identisch mit dem Gegensatz der Sinnenwelt und einer
Welt, die, nur durch das Denken zu erfassen, auch nur für
das Denken besteht. Eine spätere Epoche hat für diesen
(egensatz die Termini der paıvcuev« (Phänomene, Erschei-
nungen) und rooväysvx (Noumena, Gedankendinge) geprägt.
Die verschiedene Wertung der beiden Glieder dieses Gegen-
satzes hat sich bis in eine Zeit’ erhalten, in welcher der Ur-
sprung‘ dieser verschiedenen Wertung längst in Vergessenheit
geraten war. /
Man erkennt leicht die Beziehung, welche zwischen den
Problemen dieser Phase und den Vermittlungsproblemen der
dualistischen Philosophie besteht. Der Gegensatz des beharr-
lichen Seins und der wechselnden Erscheinungen ist, wenn
auch nicht der Form, so doch dem Sinne nach tatsächlich
kein anderer, als derjenige der objectiven und der sub-
jectiven Welt.
Denn wenngleich erst eine spätere Epoche die Erschei-
nungen als „Erscheinungen für ein erkennendes Subject“, als
„Bewußtseinsphänomene“ auffaßt, so ist doch die Frage nach
dem Zusammenhang der Erscheinungen mit ihrem nichtsinn-
lichen, beharrlichen Grunde, nach ihrer Beziehung zu diesem
den Sinnen entzogenen und unabhängig von den Sinnen be-
stehenden Dasein. ihrer Bedeutung nach nicht von solcher
Auffassung und Benennung abhängig; sie wird nur vermöge
dieser Benennung später in die neue Form der Frage nach
der „Wirkung des Objects auf das Subject“ gefaßt. Das erste
Vermittlungsproblem ist es also schon hier, das sich dem
consequenten Denken entgegenstellt,
Ebenso entspricht die verschiedene Bewertung der
Glieder ‚dieses Gegensatzes durchaus den Consequenzen des
zweiten Vermittlungsproblems. Hier wie dort erscheinen die
Eigenschaften der Sinnenwelt als unverträglich mit jenen, die
der Welt des beharrlichen, objectiven. Seins zugesprochen werden
müssen; hier wie dort aber wird dieses letztere als selbstver-
Gornelius, Einleitung in die Philosophie, 2. Aufl.