Full text: Einleitung in die Philosophie

Die Erscheinungen als das wahre Sein. 101 
bleibt doch stets die zeitliche Verschiedenheit, die in jedem 
Augenblicke die gegenwärtige Erscheinung von jeder früheren 
und jeder zukünftigen unterscheidet. 
Überlegungen dieser Art kennzeichnen den Wechsel der 
Erscheinungen als das einzige tatsächlich Gjegebene. War 
der naiven Metaphysik die Vielheit der Erscheinungen als ein 
minder Wirkliches, nur das einheitliche, beharrliche Sein als 
das wahre Seiende entgegengetreten, so muß hier ein. diametral 
entgegengesetztes Urteil Platz greifen: von einer Welt des 
bleibenden Seins läßt unsere Erfahrung uns nichts erkennen; 
nur durch die Unvollkommenheit der Beobachtung und der 
Überlegung ist das naive Denken zur Annahme beharrlicher 
Dinge geführt worden. Nicht durch die Erscheinungen also, 
sondern vielmehr durch die Annahme jenes bleibenden Seins 
werden wir getäuscht. Die Welt zeigt nirgends ein beharr- 
liches Sein: sie besteht ausschließlich im Flusse der Er- 
scheinungen. Diese sind das einzig Wirkliche. N 
Dennoch bleibt auch in diesem Fluß der Veränderungen 
ein Beharrliches. Nicht regellos, sondern nach festen Ge- 
setzen vollzieht sich der Ablauf der Erscheinungen. Diese 
Gesetze finden wir als ein Bleibendes. Sie gewähren uns in 
dem Chaos jener Wogen festen Halt und setzen uns in den 
Stand, unsere Erfahrungen in feste Formen zu fassen. 
Es mag schon au dieser Stelle bemerkt werden, daß auch 
das „bleibende Sein“ des naiven Denkens — speciell der Ding- 
begriff — tatsächlich nirgends mehr ist, als ein solches 
bleibendes Gesetz für die Veränderung der KErschei- 
nungen. Oder wissen wir von den Eigenschaften eines be- 
harrlichen Dinges mehr auszusagen als bestimmte Gesetz- 
mäßigkeiten für unsere Wahrnehmungen, die wir 
erfahrungsmäßig erkannt haben und in der Behauptung zum 
Ausdruck bringen, daß ein Ding von diesen Eigenschaften vor- 
handen sei? Wenn wir etwa sagen, daß an einer bestimmten 
Stelle des Raumes ein sichtbarer Gegenstand von blauer 
Farbe und kugelförmiger Gestalt sich befindet — was 
können wir damit mehr aussagen und aussagen wollen, als das 
erfahrungsmäßig erkannte Gesetz, daß wir, so oft wir nach 
jener Stelle blicken, ein blaues, kreisförmiges Bild von be- 
ea 
U
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.