Full text: Einleitung in die Philosophie

Ethische Probleme. 105 
Erscheinungen“ ihm zu Trugbildern werden, denen neben 
dem wahren einheitlichen Sein keinerlei Wert beigemessen 
werden kann. 
Wenn dennoch gelegentlich das ethische Bedürfnis zur 
positiven Beschäftigung mit ethischen Problemen führt, so 
steht deren Behandlung entweder mit den Consequenzen der 
metaphysischen Theorien in keinem Zusammenhange oder mit 
eben diesen Consequenzen direct im Widerspruch. Wider- 
sprüchen dieser Art werden wir speciell in der Ethik der 
Materialisten begegnen. 
Eine positive Einordnung der ethischen Probleme in den 
Zusammenhang der metaphysischen Theorie erscheint erst vom 
Standpunkte Heraklits aus möglich, da ja nach diesem die 
Erscheinungen und somit auch die menschlichen Handlungen 
nicht bloße Trugbilder sind, sondern reales Dasein besitzen. 
Entsprechend seiner Lehre von der Herrschaft des allgemeinen 
Gesetzes geht auch seine ethische Ansicht dahin, daß das 
Glück des Menschen in der bewußten Unterwerfung unter 
dieses allgemeine Gesetz bestehe. Ks liegt nahe, diese For- 
derung in dem Sinne auszulegen, in welchem wir der Lösung 
der ethischen Frage bei Spinoza wiederbegegnen: nicht als 
Forderung der tatsächlichen Unterordnung — die bei der 
Allgemeingültigkeit des Gesetzes folgerichtig nicht gestellt 
werden könnte, da sie von selbst erfüllt wäre —.sondern als 
Forderung der Erkenntnis unserer Unterordnung. Sobald 
wir erkennen, daß unsere Erlebnisse und Handlungen nur 
Glieder der großen, von dem unwandelbaren Gesetz beherrschten 
Kette der Erscheinungen sind, kann die ethische Beunruhigung 
keinen Platz mehr in unserem Denken finden: alle ethischen 
Probleme werden durch diese Erkenntnis mit einem Schlage 
als Scheinprobleme gekennzeichnet. Nur dem beschränkten 
menschlichen Denken erscheint der Unterschied von Gut und 
Böse, von Heil und Unheil. Ob wir freilich die Lehre 
Heraklits in eben diesem Sinne verstehen dürfen, wird sich 
schwerlich mehr nachweisen lassen.
	        
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