Full text: Einleitung in die Philosophie

354 8.33. Der Wertbegriff und die praktischen Normen, 
Irachtung von Kunstwerken erzogen ist, kann in einer späteren 
Entwicklungsphase Werte entdecken, die ihm heute noch völlig 
verschlossen. sind. 
Wert und Werturteil. 
Wie wir zwischen dem Dasein eines Dinges und unserem 
Wissen von diesem Dasein unterscheiden müssen, so besteht 
ein entsprechender Unterschied auch zwischen dem Vorh anden- 
sein eines Wertes und unserer Erkenntnis dieses Wertes. 
Vermöge der soeben festgestellten Abhängigkeit äußerer 
Werte von Persönlichkeitswerten erhält die genannte Unter- 
scheidung einen doppelten Siun. Ein Wert kann einerseits 
gemäß der gegenwärtigen Beschaffenheit unserer Persönlichkeit 
als solcher für uns bestehen, olıne daß wir von seinem Da- 
sein. Kenntnis zu besitzen brauchen. Andererseits kann es ge- 
schehen, deß ein bestimmter Tatbestand vermöge des gegen- 
wärtigen Zustandes unserer Entwicklung noch nicht wertvoll 
für uns ist, aber Wert für uns erhält, wenn unsere Persön- 
lichkeit sich in normaler Weise oder in anderweitig bestimmter 
Richtung entwickelt. Auch in diesem Falle pflegen wir davon 
zu 8prechen, daß jener Tatbestand Wert für uns besitze, ohne 
daß wir von diesem Werte Kenntnis haben. 
Die erste dieser beiden Möglichkeiten bedarf keiner näheren 
Darlogung; die Bedeutung der zweiten mögen einige Beispiele 
erläutern. „Das Schreibenlernen hat für ein Kind Wert, ob- 
wohl es denselben noch nicht kennt“: mit einem solchen Satze 
sprechen wir nichts Anderes sus als unsere Überzeugung, daß 
das Kind, wenn es auch zunächst das enteprechende Werturteil 
noch nicht füllt, durch seine Entwicklung notwendig dazu ge- 
führt werden wird, die Erfahrungen zu machen, aus welchen 
sich die Bejahung dieses Werturteiles ergibt, Ehenso kann 
etwa ein Kunstwerk hohen künstlerischen Wert besitzen, un- 
abhängig davon, ob gegenwärtig irgend Jemand lebt; der diesen 
Wert zu schützen weiß; während ein anderes Kunstprodueß 
vielleicht von seinem Besitzer hoch geschätzt wird, aber dennoch 
keinen tatsächlichen Kunstwert besitzt. Die erstere Behaup- 
bang meint, daß das betreffende Werk von demjenigen, der 
hinreichende künstlerische Erfahrungen gemacht hat, als wert-
	        
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