Full text: Einleitung in die Philosophie

372 £ 33. Der Wertbegriff und die praktischen Normen, 
schaffen, ist uns stets Zeit gegönnt: den Gewinn an Klarheit, 
den der heutige Tag uns nicht gewinnen läßt, dürfen wir vom 
nächsten Tage hoffen. Für die Entscheidung über unser 
Handeln im Sinne ‘der durch das Sittengesetz geforderten 
widerspruchlosen Einheit unseres Verhaltens wird uns solche 
Freiheit nicht zu Teil: gebieterisch fordert jeder Augenblick 
ein bestimmtes Tun und Lassen, und unerbittlich herrschen 
über unsere kommenden Tage die Entscheidungen, die wir über 
den Inhalt der vergangenen Stunden unseres Lebens getroffen 
haben. Wie wir in jedem Augenblicke uns im Sinne einheit- 
lichen Strebens bemüht oder uns-durch fremde Lockung aus 
unserer Bahn haben leiten lassen, so folgt unabänderlich der 
Segen immer reicherer harmonischer Entfaltung unserer ımneren 
Welt oder der Fluch der unlösbaren Widersprüche unseres 
Daseins und der obhnmächtigen Reue über das unwiederbring- 
lich Verlorene. 
Alle diese Überlegungen weisen uns nur auf die schon 
oben betonte Tatsache , zurück, daß jenes allgemeine, aber 
doch eben nur negative Prineip der Widerspruchslosigkeit 
unseres Verhaltens, so wertvoll uns die. Erkenntnis desselben 
sein muß, als praktische Richtschnur nicht genügen kann, in- 
dem es vielmehr sehon seinem Begriffe nach ein System pos1- 
tiver Werte voraussetzt. Diese positiven Werte vermag jenes 
negative Prineip uns nicht zu ersetzen. Wohl kann uns das 
letztere im Zweifelsfalle an die höheren Werte mahnen, wo wir 
Gefahr laufen, derselben zu vergessen; aber es wäre schlimm 
um unser praktisches Verhalten bestellt, wenn die Fälle, ın 
welchen es solcher Mahnung bedarf, uns öfter als in seltenen 
ausnahmsweisen Lagen unseres Lebens begegneten. In das 
Wirreal, welches die obige Betrachtung uns zeigte, gerät nur 
der, dessen Leben noch kein positives Ziel gefunden hat, auf 
welches er mit allen Kräften hinzustreben sich bemüht. Wem 
aber — gleichviel ob durch äußere Verhältnisse oder durch 
den alles überwindenden Drang des eigenen Herzens — ein 
foster Weg des Lebens vorgezeichnet ist, auf dem zu wandeln 
er alle Tage und alle Stunden sich unablässig bestrebt, dem 
kann der Wertmaßstab nicht zweifelhaft bleiben, an welchem 
er die Forderung jeder neuen Situation zu messen hat, Er
	        
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