2. Abschnitt: Arbeit des Centralverbandes. A. Handels- u. Zollpolitik. 403
Gesammtergebniß der Reform lasse sich nicht sicher berechnen. Die
Schätzungen schwankten zwischen 30 und 100 Millionen Mark.
Der zweite und wichtigste Theil der Motive war der Be—
gründung des Zollgesetzes und der einzelnen Tarifänderungen
gewidmet.
Hinsichtlich des Tarifs erregte das größte Aufsehen die
Wiedereinführung der Getreidezölle. Die Regierung schlug vor,
auf je 100 kg Weizen oder Hafer eine Abgabe von 1 Mart, für
anderes Getreide eine solche von 0,50 Mark. Diese Sätze waren
so niedrig, daß die Motive wohl mit Recht behaupten konnten, es
handele sich hierbei um keinen eigentlichen Schutzzoll, sondern um
eine Belastung der Spekulation und um eine Einnahmequelle.
Nicht ausgesprochen war in der Begründung die sehr maßgebende
Absicht, durch Agrarzölle Oesterreich und Rußland auf handels—
politischem Gebiet entgegenkommender zu machen.
Die Zolltarifvorlage bildete den Gegenstand lebhafter Er—
örterungen weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Die frei—
händlerische Presse übte eine maßlose Kritik an derselben, während
von anderer Seite dem Kanzler begeisterte Dankbarkeit gezollt wurde.
Dieser feuerte die schutzzöllnerischen Elemente in der Bevölkerung
an, mit aller Kraft für seinen Plan, besonders auch für die land—
wirthschaftlichen Zölle, einzutreten. Großes Aufsehen erregte ein
Brief, den der Kanzler an Freiherrn von Tüngen, den Führer
der süddeutschen schutzzöllnerischen Landwirthe, als Antwort auf
eine ihm zugegangene Dankadresse gerichtet hatte. Das Schreiben
lautete:
„Der Inhalt Ihres Briefes wäre mir lieber in der Oeffent—
lichkeit als in meinen Akten, denn was mich betrifft, so kann ich
nur sagen: „Vous prôehez a un converti und ich thue ohnehin,
was ich kann. Ich habe auf die Tarifkommission, so viel ich konnte,
eingewirkt, um die Landwirthschaft pari passu mit der Industrie
zu halten, in dieser Beziehung aber eher noch Zustimmung bei
den Industriellen gefunden als bei den Ministerien, nach deren
Instruktion die Kommissionsmitglieder abstimmten. Ich verharre
in diesem Streben, bedarf aber auf dem amtlichen und politischen
Gebiet einer stärkeren und praktischeren Unterstützung, als ich sie
bisher erfahren habe.“
Dieser Brief wurde von Herrn von Tüngen veröffentlicht.
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