Full text: Erster Band (1. Band)

22 Der Centralverband 1876— 1901. 
weg begünstigten Verkehr nach Belgien bezw. Frankreich gelenkt. 
Ausschlaggebend für Preußen waren aber die aus politischen Be— 
weggründen hervorgegangenen Befürchtungen wegen eines gänzlichen 
Zollanschlusses Belgiens an Frankreich. Diesen zu erreichen war 
die französische Regierung eifrig bestrebt; sie hatte zu diesem Zwecke 
ihre an sich bereits sehr hohen Zölle auf Leinengarn und Leinwand 
verdoppelt, eine Maßregel, von der Belgien schwer betroffen wurde, 
die sich aber auch gegen Deutschland richtete. 
Ünter dem Einfluß dieser Verhältnisse war der Handelsvertrag 
für den Zollverein nicht günstig ausgefallen. Während Belgien sich 
lediglich verpflichtete, den bisherigen Status aufrecht zu erhalten, 
bezw. die zeitweise aufgehobenen Vergünstigungen für deutsche Seiden— 
waaren und deutschen Wein wieder herzustellen, sonst aber keine 
irgend erhebliche, neue Zollbegünstigung einräumte, gewährte der 
Zollverein, abgesehen von weniger bedeutungsvollen Zugeständ⸗ 
nissen, eine ganz außergewöhnliche differentielle Behandlung für 
den wichtigen Verkehrsartikel Eisen, indem der Zoll für Roh— 
und Materialeisen Belgien gegenüber um die Hälfte ermäßigt 
wurde. Belgien hatte während der ganzen Dauer der Verhandlungen 
seine Stellung zwischen Frankreich und Deutschland geschickt dazu 
benutzt, um bald von der einen, bald von der anderen Macht 
Zugeständnisse zu erlangen. Als endlich die entschiedene Androhung 
von Retorsionsmaßregeln seitens des Zollvereins diesem Spiel ein 
Ende machte, war es Belgien doch noch gelungen, die zum Theil 
uͤbertriebene Besorgniß eines Anschlusses Belgiens an Frankreich 
zu verwerthen, um vortheilhafte Bedingungen fur sich heraus⸗ 
zuholen. Auch hier hatten also rein politische Beweggründe den 
Anlaß gegeben, einen für Deutschland höchst ungünstigen Vertrag 
auf handelspolitischem Gebiete abzuschließen. Als die politische 
Gestaltung sich geändert hatte und die wirthschaftlichen Nachtheile 
des Vertrages für den Zollverein erkannt waren, wurde der Handels— 
vertrag nach Ablauf des ersten Termins nicht erneuert. 
Die gesicherte Dauer des Zollvereins für weitere 12 Jahre, 
die bald darauf eingetretene Erweiterung und die Erledigung seil 
langem strittiger Fragen, wie beispielsweise der Einführung der 
Besteuerung des Rübenzuckers, hatten sein Ansehen und seine 
Bedeutung in jeder Beziehung gehoben und die Hoffnung auf 
eine weitere ruhige und ersprießliche Wirksamkeit und Entwickelung
	        
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