Full text: Erster Band (1. Band)

44 Der Centralverband 1876 — 1901. 
wolle, Wolle und Seide, für Leinengewebe und für verschiedene 
Eisen- und Stahlwaaren mäßige Erhöhungen der Zölle beantragt. 
Preußen hielt es für richtig, unter den gegebenen Umständen 
den Gegensatz hinsichtlich der Schutzzölle nicht zu verschärfen und 
hatte daher eine Reihe von Vorschlägen gemacht, die denen Bayerns 
ziemlich nahe kamen. 
Wenn diese Anträge auch den Ansichten und Wünschen derer 
nicht entsprachen, die einen wirkungsvolleren Schutz im Interesse 
der deutschen Industrie für nöthig erachteten, so ließ sich doch bald 
nach Eröffnung der Verhandlungen mit ziemlicher Sicherheit erkennen, 
daß die preußischen Vorschläge im wesentlichen die Zustimmung fast 
sämmtlicher Vereinsregierungen erhalten würden. In eigenthüm— 
licher Lage befand sich jedoch Sachsen. Die sächsische Regierung 
hatte aus politischen Beweggründen die Idee einer Zollvereinigung 
mit Oesterreich lebhaft erfaßt und vertreten. In der Natur einer 
solchen Vereinigung, wie auch schon in der Richtung der öster— 
reichischen Vorschläge, lag unberkennbar der Uebergang zu einer 
ausgesprochenen Schutzzollpolitik. Diese aber würde im Gegensatz zu 
den bisher von Sachsen lebhaft vertretenen freihändlerischen An— 
sichten und Bestrebungen gestanden haben. Aus diesem Dilemma 
suchte sich die sächsische Regierung dadurch zu ziehen, daß sie ver— 
langte, der Zollverein solle zur Zeit überhaupt an seinem Tarif⸗ 
system gar nichts ändern, weil er dadurch den Anschluß der Nachbar— 
staaten erschweren würde. 
Durch diese Stellungnahme Sachsens wurde ein Beschluß über 
die Tarife gänzlich verhindert. Als nach äußerst schwierigen, lange 
Zeit vergeblichen Verhandlungen Sachsen endlich seinen Widerspruch 
aufgab, da gab unerwartet am 26. September der Vertreter Braun⸗ 
schweigs die Erklärung ab, daß seine Regierung sich nicht bewegen 
lassen würde, zu der Einführung der mit höheren Garnzöllen ver— 
hundenen Rückzölle ihre Zustimmung zu ertheilen. 
Diese Stellungnahme, von der Braunschweig nicht abzubringen 
war und deren Gründe nicht aufgeklärt worden sind, hatte die 
ganze bisherige, schwierige und umfangreiche Tarifberathung 
vereitelt. Durch diesen Vorgang war der Mißstand ins hellste 
Licht gerückt, daß eine, von allen übrigen Vereinsregierungen lebhaft 
gewünschte und im Interesse des ganzen Zollvereins gelegene Maß— 
regel durch den Widerspruch einer einzigen, noch dazu materiell 
nicht besonders betheiligten Regierung, ohne Angabe von Gründen
	        
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