Full text: Zweiter Band (2. Band)

2. Abschnitt: Arbeit des Centralverbandes. B. Sozialpolitik. 757 
Einleitend verwies der Referent darauf, daß bei den vor— 
hergegangenen Erörterungen über die Behandlung sozialpolitischer 
Fragen im Reichstage die Rede gewesen sei von dem Wettreunen 
verschiedener Parteien, um noch vor Schluß der jetzigen Reichstags—⸗ 
wahlperiode mit der Einbringung abenteuerlicher Anträge möglichst 
viel Wahlagitation zu treiben. Der merkwürdigste Zug bei diesem 
Wettrennen sei nach seiner Ansicht die Thatsache, daß auch die 
Reichsregierung dieses Wettrennen mitmache. Auch sie habe 
unmittelbar vor Schluß der Reichstagssession eine Vorlage einge— 
bracht, die von außerordentlich großer Tragweite sei. Eine gründ⸗ 
liche und sachgemäße Durchberathung werde nach Lage der Sache 
kaum möglich sein. Aus den umfassenden, von der Regierung 
unzweifelhaft vorgenommenen Vorarbeiten sei zu sehr später Stunde 
ein kleines Bruchstück herausgerissen und dem Bundesrath sowie 
dem Reichstage unterbreitet worden. Dr. Tille verwies auf die von 
dem Geheimen Regierungsrath Hoffmann im Verwaltungsblatt 
bereits im Jahre 1900 veröffentlichten Aufsätze. Durch sie seien 
die Grundsätze dargelegt worden, von denen, nach der damals in 
den Regierungskreisen herrschenden Ansicht, eine Reform des Kranken— 
versicherungsgesetzes ausgehen sollte. Die vorliegende Novelle sei 
zwar von demselben Geiste durchweht, bringe aber nur einen kleinen 
Theil von den damals für nothwendig erachteten Reformen. 
Die dem Gesetzentwurf beigegebene Denhschrift über die Kosten 
der im Gesetz vorgesehenen Mehrbelastung bezeichnete der Referent 
als lückenhaft. Er wies nach, daß nicht unerhebliche, größere 
Leistungen bedingende Bestimmungen in der Denkschrift keine Be— 
rücksichtigung gefunden hätten, und daß demgemäß die Mehr⸗ 
belastung sich größer gestalten würde, als sie in der Denkschrift mit 
rund 10 pCt. angegeben worden sei. Trotzdem würde man die 
drei hauptsächlichsten Vorschläge des Gesetzentwurfes, die Aus— 
dehnung der Krankenfürsorge von 13 auf 26 Wochen, die Er— 
weiterung der Unterstützung der Wöchnerinnen von vier auf sechs 
Wochen nach der Niederkunft und die obligatorische Einbeziehung 
der Geschlechtskranken in die Krankenfürsorge als Besserung des 
jetzigen Zustandes billigen und in soweit wenigstens einen Fort⸗ 
schritt in der Entwickelung der Krankenversicherung erblicken. 
Bei Darlegung des weiteren Inhaltes des Gesetzentwurfes 
besprach der Referent auch die zur Deckung der höheren Auf⸗ 
wendungen erforderliche Erhöhung der Beiträge. Dabei machte er
	        
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