Das Oratorium. 5
Musikdramas. Liszt war es, der in der Legen de vonderheili—
gen Elisabeth“ diesen Schritt getan hat. Dieses Werk hat in der
Geschichte des Oratoriums dieselbe Stellung, wie der „Lohengrin“ in der
Entwickelung des Musikdramas. Die Schwierigkeit war nur die, den
großen Chören, besonders den betrachtenden, ihre Stellung zu wahren,
aͤls das Wesentliche des Oratoriums. Andererseits lag die Gefahr
nahe, daß die Grenze zwischen Oratorium und Oper verwischt würde.
Wie nahe auch Liszt diese Grenze gestreift, zeigt am besten der Um—
stand, daß man seine Elisabeth auf die Bühne gezerrt und nicht ohne
Wirkung aufgeführt hat. An verklärter Schönheit und Poesie, an
zarter Anmut und schlichter Wahrheit wird die „Elisabeth“ von
keinem Werke übertroffen.
Diesem dramatischen Oratorium stellte Liszt (1866) sein gewal—
tiges Kirchenoratorium „Christus“ gegenüber; das Werk, in
welchem Liszts Durchdringung des Religiösen in der Kunst ihren
höchsten Ausdruck fand.
Der „Christus“ besteht aus einer Reihe groß angelegter Bilder,
deren Thematik dem uralten gregorianischen Gesang entnommen ist.
Dadurch ist dem Werk der kirchliche Grundcharakter aufgedrückt, von
einer Objektivität, die oft an Palestrina erinnert.
Außer diesem Riesenwerke schrieb Liszt mehrere M essen, unter
denen die Graner Festmesse“ (1855) die glänzendste ist, und als
eines seiner reifsten Werke den „13. Psalm“.
Ganz im Sinne der „Heiligen Elisabeth“ komponierte der Belgier
Edgar Tinel sein vielaufgeführtes Oratorium „Franziskus“. In
seiner äußerlichen Aufmachung hat es nichts von der intimen Schön—
heit des Lisztschen Werkes; vor allem fehlt ihm die innere Entwickelung
des Hauptcharakters. Sein Oratorium „Godolev a“ ist ein Zwitter⸗
ding zwischen Oper und Oratorium.
Von weit tieferer Bedeutung sind die Chorwerke Friedr. Kiels
(1821 1885), sein „Christus“ und seine beiden „Requiem“,
wenn auch mehr im Sinne der alten Schule. In diese selbe Reihe ge⸗
hört Albert Becker mit seiner Konzertmessein Bmoll, Selig
aus Gnade“ u. a.; ebenso Herzogenberg mit seinem „Requiem“.
Bedeutend moderner ist Felix Draeseke. Die Wagnersche Idee
einer dramatischen Trilogie überträgt er in seinem Mysterium
„Christus“ als Erster auf das Oratorium. Von gleichem modernen
Geiste getragen sind auch die Oratorien Klughardis, „Die Zer—
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