Full text: Musikgeschichte, Kulturquerschnitte, Formenlehre, Tonwerkzeuge und Partitur (1. Band)

8 Die Musik der Gegenwart. 
tige Symphonie in Fmoll. Diese Richtung wurde noch vertieft 
und verstärkt, als R. Strauß 1885 von Hans von Bülow als Hof— 
musikdirektor nach Meiningen berufen wurde. Sein Ausspruch: „Zu 
Strauß' Charakter habe ich ebensoviel Vertrauen als zu seinem 
Talent“ zeigt, wie sehr er den jungen Künstler schätzt. Von den 
Werken, welche in diese Zeit fallen, nenne ich neben Liedern das über— 
mächtige Chorwerk „Wanderers Sturmlied“ (1884/85) und 
die Burleske für Klavier und Orchester (1885/86). 
Neben Bülows Einfluß trat in Meiningen noch der Alexander 
Ritters. Von ganzer Seele ein Mann des Fortschritts, war er be— 
sonders Liszt ergeben. Noch schwankt Strauß, wohin er sich wenden 
soll. Da trifft ihn der Ruf nach München (1886). Bevor er die 
neue Stelle antritt, reist er nach Italien. Die Frucht dieser Reise ist 
die Sinfonische Fantasie „Aus Italien“. In München 
trifft er seinen treuen Freund Ritter wieder, der ihm dorthin gefolgt 
war. Jetzt, dem direkten Einfluß Bülows entrückt, streift Strauß 
alles Fremde schnell von sich. Als erstes Werk schreibt er 1886 die 
symphonische Dichtung „Don Juan“, anlehnend an Lenaus 
Gedicht. Mit diesem farbensprühenden, leidenschaftlichen Werk steht 
er mit einem Schlage als Eigener vor uns, und in demselben Augen⸗ 
blick übernimmt er die Führung in der Kunst, kühn und furchtlos. 
Der Bann, den R. Wagner ausübte, ist gebrochen. Eine neue 
Kunst, eine Kunst höchster Reizsamkeit, die bis hinter die Erscheinung 
der Dinge dringt, ist erstanden. In „don Juan“ steht sie fertig vor 
uns. Aus der symphonischen Dichtung Franz Liszts hervorgegangen, 
steigert sich die Ausdrucksfähigkeit ins Unermeßliche, von Werk zu 
Werk. Kühne, charakteristische Motive tragen diese Kunst, Themen 
von einer Bogenspannug und Weite, einem Schwung und einem 
Reichtum der Motive, wie sie noch keiner gewagt hatte. Liszts 
musikalischer Satz ist in allem mehr homophoner Art, überrascht durch 
seine neue Harmonik. R. Strauß' Kunst kennt nur Stimmen, die er 
mit unerhörter Kunst und Selbständigkeit lenkt. Sie führen zu den 
unerhörtesten harmonischen Problemen. Das alles aber ist in Farben 
getaucht, die bereits selbst als solche zu uns reden. Dem Don Juan 
folgt bald schon das Werk, welches den Namen Strauß' zuerst in die 
weitesten Kreise trug: „Dod und Verklärun g“, überwältigend 
in seiner abgeklärten Schönheit, getragen von hohem Ethos, das Be— 
kenntnis einer großen Seele. — Was alle großen Meister auszeichnete, 
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