Full text: Musikgeschichte, Kulturquerschnitte, Formenlehre, Tonwerkzeuge und Partitur (1. Band)

122 Die jüngste, expressionistische Kunst. 
setzen auf ein Minimum. Oder wie ein neuerer Schriftsteller sagt: 
„Die allmähliche aber konsequente Vergewaltigung der Außenwelt 
durch die Innenwelt, des Körperlichen durch das Seelische, der empi— 
rischen Erscheinung durch die Objektivation des transzendentalen Er— 
lebnisses bis zum völligen Verzicht auf jede Ähnlichkeit mit dem Na— 
türlichen.“ Alles soll Seele werden, sich in Seele auflösen; alles wird 
Ausdruck. Das führt in letzter Konsequenz zu einer völligen Ver— 
nichtung alles dessen, was wir bisher als Form betrachtet haben; die 
Vernichtung des Intellektualismus und die letzte Steigerung des Ge— 
fühlsmäßigen bis zum Äußersten. Und in der Tat, unsere modernste 
Kunst hat in stetem Fortschritt diese Konsequenz gezogen. Sie will 
ihren Inhalt sich frei ergießen lassen. Ein Aufbauen, organisches Ge— 
stalten auf Grund bestimmter Motive verschmäht sie. Sie will in 
jedem Takt neu sein. Nicht nur eine freie Entwicklung des Ganzen, 
sondern auch jeder Linie. Sie soll nicht mehr durch Gesetze gebunden 
sein, besonders keine harmonischen; jede Stimme darf ihren 
eigenen Weg gehen ohne Rücksicht auf die Harmonie im herkömm— 
lichen Sinne. Diese Kunst ist in ihren extremsten Erzeugnissen 
atonisch, erkennt weder Tonart noch Harmonie mehr an. Auch 
rhythmisch gelangt sie zu einer Vielgestaltigkeit innerhalb desselben 
Stückes, daß der alte Taktbegriff vollständig aufgehoben erscheint. 
Kurz, alles, was Form heißt, ist auf ein Minimum herabgesetzt zu— 
gunsten des Inhalts. Gefühl ist alles! Viele Kräfte waren am Werke, 
diese Umgestaltung der grundlegenden Kunstbegriffe herbeizuführen. 
Ich nannte schon den genialen Franzosen Debussy mit seiner Um— 
formung des harmonischen Begriffs und der Aufgabe der alten 
Tonalität auf Grund der Tonleiter in Ganztönen. Eine Steigerung 
fanden seine Ideen in Frankreich durch Komponisten wie M. Ravel 
(geb. 1875) Dukas und Dupuis. 
Der Hauptwegeführer, der gleichsam alle Fäden zusammenfaßte, 
war der Wiener Arnold Schoenberg (geb. 1874 in Wien). In seinen 
Werken nähert er sich Schritt für Schritt seinem Ziele. Schon kündet 
sich das Neue an in seinem Streichquartett in Dmoll, mehr 
noch in dem stimmungsvollen Werke „Verklärte Nacht“. Die 
harmonischen Grundlagen sind hier zwar kühn behandelt, aber 
nirgends zerstört oder aufgehoben. Die motivische Arbeit ist im letzten 
Werke bereits eine beschränkte zugunsten der sich immer neu ge⸗ 
därenden Idee. Einen großen Schritt vorwärts tut Schoenberg in 
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