Die Singstimme. 267
wächst das Streben, die Farbe der Wirklichkeit anzupassen, und erst
zuletzt, mit dem Erreichen der höchsten Stufe des Empsindens, wird
die Farbe gleichsam zur Sprache, zum lebendigen Ausdruck. So ist es
auch in der Musikentwicklung. Noch Monteverdi in seinem Orfeo
koloriert seine Zeichnungen, und zwar recht bunt. Erst von da an
beginnt die Erkenntnis der Farbe als Ausdrucksmittel Schritt für
Schritt aufzudämmern. Aber erst einem Beethoven wird sie zum
sprechenden Ausdrucksmittel. Er ist es, der zuerst die Seele der In⸗
strumente entdeckte, der sie lehrte, mit Engelzungen zu uns zu reden.
Die Singstimme!.
An der Spitze aller Tonerzeuger, als ihre vornehmste Gattung,
steht die menschliche Stimme. Sie vermag am unmittel—
barsten die Seele auszusprechen, unseren Hauch zum direkten
Träger seelischer Empfindung zu gestalten. Keines der Instrumente
reicht an sie heran. Mag die Geige jauchzen und lachen, das Violon—
cello klagen und in Sehnsucht schwelgen, das Horn Zauberbilder der
Romantik in uns hervorrufen, nichts ist doch an Tiefe und Reichtum
des Empfindens der menschlichen Stimme vergleichbar; alle übertrifft
sie durch die Macht ihrer persönlichen Eigenart, ihres Individualis⸗
mus; sie ist gleichsam der Mensch selbst, seine unmittelbar in die
Erscheinung tretende Seele.
Der Mensch hat die Fähigkeit, durch das Zusammenwirken einer
Reihe von Organen Töne hervorzubringen, die je nach Geschlecht,
je nach Verschiedenheitder Gestaltung der Organe sich
in Farbe und Ausdruck, in Lage und Fülle voneinander
unterscheiden.
Der Umfang der menschlichen Stimme beträgt im Durchschnitt
etwa 114 Oktave. Im einzelnen allerdings überschreiten viele Stim—
men diesen Umfang nach oben oder unten um ein Bedeutendes, in
Ausnahmefällen gar bis zu einem Umfange von 3 Oktaven. Durch
kunstgerechte Sch Uulung läßt sich der Umfang der Stimme steigern;
es ist daher natürlich, daß unsere Meister an den geschulten Solisten
viel höhere Anforderungen stellen als an den Chorsänger. Der
Chor hält nach Höhe und Tiefe die einzelnen Stimmen in engeren
Grenzen, entsprechend dem Durchschnitt aller Sänger.
1 ũber die Physiologie der Stimme siehe Fritz Volbach, Die Kunst der
Sprache. 23. —25. Aufl.