Full text: Musikgeschichte, Kulturquerschnitte, Formenlehre, Tonwerkzeuge und Partitur (1. Band)

Die Ars nova. 41 
indem man die Nachahmung nur auf den Hauptgedanken beschränkte, 
im weiteren Verlauf die Stimmen aber frei gestaltete. Eine weitere 
Schwierigkeit lag noch in der verschiedenen Stimmlage. Stand z. B. 
das Thema im Sopran in hoher Lage, so konnte es wohl der Tenor 
wörtlich eine Oktave tiefer nachahmen, nicht aber Alt oder Baß mit 
ihrer tieferen Lage. Was aber hinderte, die Nachahmung in einen 
andern Intervall, in der Secunde, Terz usw. auszuführen und so der 
Stimmlage anzupassen? Nun ist die Lage des Alts etwa um eine 
Quint tiefer als die des Soprans, und entsprechend die des Baß eine 
Quint tiefer als die des Tenor. Das bewirkt, daß man die Nachahmung 
in der Quinte zwischen diesen Stimmen bevorzugte. Dieses Verhält— 
nis wird später immer mehr zur Regel und in der Fugenform zum 
Gesetz. 
Literatur: Joh. Wolf, Florenz in der Musikgeschichte des 14. Jahrhs. (1902) in 
Sammelb. III der Internat. Musikgesellsch. mit acht vollst. Kompositionen. Ebenda, 
Band IVv und V Fr. Ludwig, Die mehrst. Musik des 14. Jahrhs. — Musik⸗ 
beispiele siehe auch H. Riemann, Musikgesch. in Beispielen J. Band, und von 
demselben Hausmusik aus alter Zeit (1916). 
Die Schule der Niederländer. 
Der Meister, der als erster alle die Errungenschaften der Kontra— 
punktik, des imitierenden Stils sich nicht nur dienstbar machte, son⸗ 
dern zugleich zu höchster Vollendung steigerte, war Jan Ockeghem 
(1420 -1513), ein Schüler Binchois' und Dufays (?). Er schrieb 
Werke von solcher Künstlichkeit des Satzes, daß man oft das Gefühl 
hat, daß er die Mittel zum Zweck erhebt. So schreibt er ein 
36stimmiges Deo gratias mit neunfachem Kanon; eine Missa 
prolationum, in der aus zwei gegebenen Stimmen die andern von 
selbst folgen. 
Der bedeutendste Schüler Ockeghems ist Josquin des Proͤs (Jodo⸗— 
cus Pratensis) (1460 - 1521), den man nicht mit Unrecht „das erste 
Genieder Musikgeschichte“genannthat. Auch er beherrscht 
all die Kunst des Kontrapunkts trotz seinem Lehrer, aber er weiß sie 
stets dem höheren Zweck gemäß als Ausdrucksmittel seiner 
Ideen zu verwenden. In seiner Genialität gleicht er Mozart. Wie 
dieser, so löst auch er die schwierigsten Probleme mit der spielenden 
Leichtigkeit eines Kindes. Und wie bei Mozart so wird auch bei 
Josquin die Form zu der, dem Inhalt eingehauchten Seele. Werke,
	        
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