Full text: Musikgeschichte, Kulturquerschnitte, Formenlehre, Tonwerkzeuge und Partitur (1. Band)

Die Schule der Niederländer. 
Missa super „Ecce ancilla Domini“ tritt die super „L'omme armé“. 
Mit dem Volksliede als Cantus firmus trat zum ersten Male ein 
nationaler Zug in die geistliche Kunst, allerdings nicht zum Vorteil 
der Stilreinheit der Messe mit ihren gregorianischen Priester- und 
Wechselgesängen. 
Die frische Herbheit der Melodik, die Kühnheit des Satzes, die 
Freude daran findet, sich die verwickelsten Probleme zu stellen, um 
sie gleichsam spielend zu lösen, charakterisieren den Stil des Lassus 
und führen ihn besonders unserem deutschen Empfinden nahe. Ja 
wir haben ein Recht, diesen großen Niederländer als deutschen 
Meister in Anspruch zu nehmen. 
Der malerische Sinn der Niederländer, der sich in 
ihren Bildern, in der Anlage ihrer Städte so gut wie in den kunst— 
vollen Geweben ausspricht, ist auch in ihrer Musik treibend. Ihre 
Kompositionen sind in der Tat in Tönen ausgeführte kunstvolle Ge— 
webe. Man ging aber einen Schritt weiter zu wirklicher Ton— 
malerei und schuf Bilder von einem Realismus, wie er ähnlich nur 
in den Werken eines Teniers und Ostade lebt. An der Spitze dieser 
musikalischen Maler steht Jannequin, der sein Gemälde les cris 
cde Paris auf Ausrufmotive aufbaut. Neben ihm sind es be— 
sonders Gombert und Verdelot, welche dieser Richtung huldigen. Be— 
liebt sind Schlachtgemälde, dann humoristische Bilder, wie „Der 
Hühnerhole Die gagd, dDas Vogeltonzert — 
cadguet des femmes“ (Weiberklatsch); alles wird in Musik ge— 
setzt. Solange es sich um einen Scherz handelt, ist gegen derartige 
musikalische Bilder ästhetisch nichts einzuwenden; denn „im Scherze ist 
alles erlaubt“, sagt R. Wagner. Die Singstimmen, die überaus schwer 
und kompliziert gesetzt sind, wurden sicherlich von Instrumenten 
begleitet. Auch sonst war die instrumentale Begleitung wohl die Regel, 
wie das schon die Musikbilder dieser Zeit zeigen. 
Fast allen diesen Meistern wird ihr kleines Vaterland zu enge, 
sie ziehen in alle Welt hinaus. In allen Ländern treffen wir sie, und 
wo sie hinkommen, verbreiten sie ihre neue Kunst. Aber auch das 
fremde Land, dem sie ihre Dienste weihen, bleibt nicht ohne Einfluß. 
Wie Lassus in Bayern von deutschem Wesen durchtränkt wird, so 
zeigt Josquins Kunst infolge seines langen Aufenthalts am Hofe zu 
Paris mehr französischen Einschlag, ohne die Heimat darum zu 
verleugnen. Unter den Meistern, die es besonders nach dem
	        
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