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Liebe. Als den Anfang der Welt setztest Du den Egoismus unter
den Namen Gottes, welcher die Natur nur dazu ins Dasein rief, daß
sie der Mensch verzehrt und genießt, und an das Ende der Welt setzest
Du den Egoismus unter dem Namen des Himmels, um ihn für die
Beschwerlichkeiten zu entschädigen, die mit dem Genusse der Natur
verbunden sind!
Plutarch in seiner Schrift von der Unmöglichkeit eines angeneh⸗
men Lebens nach epicuräischen Grundsätzen sagt, daß die Epicuräer den
r Menschen, folglich sich selbst der süßesten Hoffnungen berauben, indem
sie nicht, wie die, welche wie Pythagoras, Plato und Homer von der
Seele denken, ein Wiedersehen geliebter Todten erwarten können. In
der That ist der einzige honorige und respectable Grund für die Unsterb—
lichkeit die Liebe, denn er ist der rein menschliche. Zwar stützt sich
auch dieser Grund auf die menschliche Selbstliebe, denn das Verlangen
des Wiedersehens erstreckt sich ja nicht auf andere, mir gleichgültige
Menschen, ich will ja nur die Meinigen, meine Kinder, meine Gattin,
meine Eltern und Freunde wiedersehen; aber die wahre, im Wesen des
Menschen begründete, die nicht zu verlaäugnende Selbstliebe ist die in
der Menschenliebe sich befriedigende Selbstliebe; ist die nothwendige,
unwillkührliche, indirecte Selbstliebe; denn ich kann ja keinen Gegen⸗
stand lieben, ohne Lust und Freude an ihm zu empfinden. Liebe zum
Gegenstand ohne Egoismus, ohne Selbstliebe ist eine supranatura⸗
z listische Chimäre — ist eine Liebe ohne Liebe. Das Gefühl der Liebe
24* nun sträubt sich dagegen, den Tod des Geliebten anzuerkennen, empört
* sich gegen die Nothwendigkeit des Todes, denn es kennt kein Gesetz als
u sich selbst; ja es hält es für eine Barbarei, eine Grausamkeit, dem
n Todten das Leben abzusprechen. Die Liebe will ja Alles beseitigen,
was dem Geliebten wehe thut, was wider ihn ist, sein Selbst⸗ und
n Wohlgefühl beeinträchtigt: wie sollte sie sich also von dem Tode das
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