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Systeme, die Religionen, die Götter der Menschen zu Grunde? Ist der
Geist des achtzehnten Jahrhunderts der des neunzehnten? der Geist des
Juͤnglings der Geist des Mannes?
Jede Schrift, die ich schreibe, ist ein Spiegel meines Wesens,
ein Abdruck aller meiner Fähigkeiten, in dem Augenblick, wo ich sie
schreibe, das Höchste, was ich weiß und denken kann; aber gleichwohl
verschwindet mir die Schrift, welche a priori für mich von unvergäng⸗
licher Bedeutung war, mit der Zeit in Nichts. So ist es auch mit
dem Menschen. Jeder ist ein Spiegel des Universums, Jeder eine
Schrift, in der die Natur giebt, was sie nur immer unter dieser und
diesen Bedingungen und Umständen geben konnte; und Jeder ist, indem
er seine eigne Schrift liest, so entzückt von ihr, daß er a priori ihre
Unsterblichkeit demonstrirt, daß er sich unmöglich denken kann, daß sie
je zu Makulatur gemacht werden könne. Aber gleichwohl zeigt sich,
aber erst a posteriori, daß diese Schrift nicht das opus postumum der
Natur war, daß die Natur, unaufhörlich schaffend, an die Stelle der
alten Schriften neue setzt, weil sie sich selbst verändert und daher in den
alten Spiegeln nicht mehr sich erkennt. Bliebe das Universum immer
dasselbe, so blieben auch immer dieselben Individuen; sie würden nicht
sterben, aber es verändert sich; also kommen nothwendig auch andere
Individuen, in denen sich dieses sein verändertes Wesen Soncentrirt und
abspiegelt. Und so vergänglich der Mensch, so vergänglich ist auch
sein Geist. „Der Geist? der Geist, für den es keinen Raum und keine
Zeit giebt, der die Sterne mißt, der das Unendliche, das Al umfaßt?“
Aber siehst Du nicht auch auf dem Auge das Unendliche, das All sich
abspiegeln? waͤre die Sternenwelt Gegenstand Deines Geistes, wenn
sie nicht Gegenstand Deines Auges wäre? Und doch siehst Du dieses
Auge, das Dir allein die „Wunder des Himmels “ aufschließt, er—
söschen. Wie reimt sich diese Erscheinung mit der himmlischen, uni—
versellen Natur des Auges? Warum vergissest Du also über der Herr—
lichkeit des Geistes die Herrlichkeit des Auges, der Sinne, des Körpers
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