Full text: Pierre Bayle (6. Band)

nicht um ihret, sondern um Gottes willen lieben und thun müsse: haben einzelne 
Theologen die Tugend als Zweck ihrer selbst bestimmt, so haben sie dies im Wider— n 
spruch mit ihren theologischen Principien gethan. Aber dieses Princip ist eben kein n 
ethisches Princip, vielmehr ein antiethisches: es zieht den Menschen von der Tugend m 
ab. Wenn die Tugend nicht Zweck ihrer selbst ist, so hat sie keinen Werth für m 
sich selbst; wenn ich die Tugend nicht um der Tugend selbst willen liebe und thue, m 
so liebe und thue ich sie aus einem nicht in ihr selbst liegenden, einem fremden, also m 
untugendhaften Grunde. Es gibt kein anderes Princip der Tugend, als die Tu— m 
gend selbst: der nimmt der Tugend ihren Charakter, das, wodurch sie Tugend ist, 
der ihr das propter und per se nimmt. Ein Sohn, der aus Gehorsam oder Liebe n 
zu seinem Vater nicht lügt, ist zwar ein guter, folgsamer Sohn, aber noch lange nicht 
ein tugendhafter Mensch. Er für sich selbst hat keine Liebe zur Wahrheit, er haßt sie 
vielleicht selbst von Herzensgrund, aber eine dritte Person versöhnt sie mit einander — 
eine Versöhnung, die jedoch nicht den innern Zwiespalt aufhebt. Zwar wird Gott 
als das absolut Gute und Heilige selbst vorgestellt und geliebt, aber, abgesehen von 
dem, was hierüber schon oben gesagt wurde, in dieser Vorstellung und Liebe liegt nicht 
die Erkenntniß und Liebe der Tugend in ihrer Bestimmtheit. Die tugend— m 
hafte, die sittliche Liebe zu einer bestimmten Tugend liegt aber eben lediglich nur in 
ihr selbst, in ihrer Bestimmtheit. Benesficium per se expetenda res est, una spectatur 
in eo accipientis utilitas. .. Honestum propter nullam aliam causam, quam propter 
ipsum seguimur. (Seneca, De benef. 1. 4. S. 9.) Dies ist der einzige sittliche Grund 
der Wohlthätigkeit; die Wohlthätigkeit ist an und für sich selbst ein edler, ein 
goͤtklicher Akt; sie wird nicht dadurch götllich, daß Gott sie will oder selbst wohlthätig 
ist, sondern Gott ist nur dadurch Gott, nicht ein teuflisches oder sonst ein egoistisches 
Wesen, daß und wenn diese an und für sich, durch sich selbst göttliche Tugend seine 
Tugend ist. Die Idee des Guten ist stets das a priori, das Maaß, das Gesetz ihrer 
selbst; Gott gibt uns nicht die Idee des Guten, sondern die Idee des Guten gibt uns 
Gott, wir denken ihn durch die Idee, nicht die Idee durch ihn. Wenn ich daher nur 
aus Liebe zu Gott wohlthätig bin, so bin ich nicht wohlthätig aus Liebe zur Wohl— 
haätigkeit selbst, nicht wohlthätig im Sinne der Wohlthätigkeit, im Sinne der Tugend, 
so kommt meine Wohlthat nicht aus der ersten Hand, aus der lautern Quelle, so hat 
sie einen durch ein Medium getrübten Grund, einen Grund, von dem es immer noch 
zweifelhaft ist, ob er ein reiner oder unreiner — ein Zweifel, der da, wo frei und offen 
die Tugend nur um der Tugend willen geliebt wird, wegfällt — denn deine Liebe zu 
Gott ist dann nur eine sittliche, wenn du Gott sittlich denkst — sonst liebst du 
statt Gotles „die Seitenwunde des Kreuzgottes“ oder das „Kreuzluftvögelein“ oder 
das praeputium Christi, oder, wenn du etwas abstrakter bist, die abgeschiedenen Geister 
deiner verlornen oder nie gefundenen irdischen Freuden, überhaupt die Gase, die sich 
aus deinen geheimen Herzensseufzern entwickeln und dann oben in dem schönen Him— 
melblau der Phantasie als Wesen einer andern Welt in lichten Wolkengestaltungen 
dir entgegenscheinen. Es hängt also immer nur von der ethischen Beschaffen— 
heit deines Gottes, von der ethischen Beschaffenheit deiner Liebe zu ihm ab, 
ob eine Handlung, die du aus Liebe zu ihm thust, eine sittliche oder unsittliche ist. 
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