Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

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daß die Religion oder vielmehr Mythologie der Griechen, und eben so 
die der Germanen, wenigstens Nordgermanen, die beide, namentlich die 
letzte, ursprünglich Naturreligionen waren, nicht nur die Menschen, son⸗ 
dern selbst auch die Götter aus der Natur entspringen ließen — ein deut⸗ 
licher Beweis, daß die Götter und Menschen eins sind, daß die Götter 
mit den Menschen stehen und fallen. So ist bei Homer Okeanos, das 
Meer die Geburt, d. h. der Erzeuger, der Vater der Götter und Men— 
schen; bei Hesiod dagegen die Erde die Mutter des Uranus, des Him— 
mels, und in Verbindung mit diesem die Mutter der Götter. Bei 
Sophokles heißt daher die Erde die oberste oder höchste Gottheit. Bei 
den Nordgermanen geht der Riese Mmir, „offenbar die unentfaltete Ge⸗ 
sammtheit der Elemente und Naturkräfte“ (Müller a. a. O.), der Ent— 
stehung der Götter voran. Bei den Römern heißt, wie bei den Griechen, 
die Erde die Mutter der Götter. Augustin in seinem Gottesstaat spot— 
tet darüber, daß die Götter Erdgeborene seien, und folgert daraus, daß 
die Recht hätten, welche die Götter für ehemalige Menschen hielten. 
Aber allerdings sind die Götter, auch die Augustin'schen eingeschlossen, 
nur aus der Erde entstanden, und wenn sie auch gleich keine Menschen 
gewesen sind im Sinne des Euhemerus, doch nicht früher gewesen, als 
die Menschen. Mit demselben Rechte, als die Erde die Mutter der 
Götter, heißt bei Homer der Schlaf der Bändiger der Götter und Men— 
schen, denn die Götter sind nur für und durch die Menschen existirende 
Wesen; sie wachen daher nicht über den Menschen, wenn er schläft, son— 
dern wenn die Menschen schlafen, schlafen auch die Götter, d. h. mit 
dem Bewußtsein der Menschen erlischt auch die Existenz der Götter. 
Meine Aufgabe im Wesen der Religion war nun keine andere, als die 
Naturreligion, wenigstens den ihr zu Grunde liegenden Wahrheitssinn 
gegen die theistischen Erklärungen und Ableitungen der Natur zu ver— 
theidigen, zu rechtfertigen, zu begründen. Ich that dies nach allen Seiten 
hin in nicht weniger als 20 Paragraphen von 8. 6—26. Ehe ich nun 
an den Inhalt dieser Paragraphen gehe, muß ich voraus bemerken, daß,
	        
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