Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

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Wesen macht; ich finde in ihr die Bestätigung der Gründe, die mich 
als intellectuelles, als philosophisches Culturwesen bestimmen, der Na— 
tur, wenn auch nicht dieselbe Bedeutung, die ihr die Naturreligion giebt, 
denn ich vergöttere Nichts, folglich auch nicht die Natur, doch eine ana⸗ 
loge, ähnliche, nur durch die Naturwissenschaften und Philosophie ver⸗ 
änderte Bedeutung zu geben. Ich sympathisire allerdings mit den reli— 
giösen Verehrern der Natur; ich bin ein leidenschaftlicher Bewunderer 
und Verehrer derselben; ich begreife es, nicht aus Büchern, nicht aus 
gelehrten Beweisen, sondern aus meinen unmiltelbaren Anschauungen 
und Eindrücken von der Natur, daß die alten Völler, daß noch heutige 
Völker sie als Gott verehren können. Ich finde noch heute in meinem 
Gefühle oder Herzen, wie es von der Natur ergriffen wird, noch heute 
in meinem Verstande selbst Gründe für ihre Gottheit oder Vergötterung. 
Ich schließe daraus, weil doch auch die Sonne⸗, Feuer⸗ und Sternen⸗ 
anbeter eben so gut Menschen sind, als wie ich, daß auch ähnliche (wenn 
auch nach ihrem Standpunkt veränderte) Gruͤnde sie zur Vergötterung 
der Natur bewegen. Ich schließe nicht, wie die Historiker von der Ver— 
gangenheit auf die Gegenwart, sondern von dieser auf jene. Ich halte 
die Gegenwart für den Schlüssel der Vergangenheit, nicht umgekehrt, 
aus dem einfachen Grunde, weil ich ja, wenn auch unbewußt und un⸗ 
willkürlich, die Vergangenheit immer nur nach meinem gegenwärtigen 
Standpunkt messe, beurtheile, erkenne, daher jede Zeit eine andere Ge— 
schichte von der obgleich an sich todten, unveränderlichen Vergangenheit 
hat. Ich anerkenne daher nicht die Naturreligion, weil sie mir eine 
äußerliche Autorität ist, sondern nur deßwegen, weil ich in mir selbst 
noch heute die Motive zu derselben finde, die Gründe, die mich, wenn 
nicht ihre Macht an der Macht der Cultur, der Naturwissenschaften, der 
Philosophie scheiterte, noch heute zu einem Naturvergötterer machen 
würden. Dies scheint arrogant zu sein; aber was der Mensch nicht 
aus sich selbst erkennt, das erkennt er gar nicht. Wer nicht aus und an 
1l snnliheß sich selbst fühlt, warum die Menschen die Sonne, den Mond, die Pflan⸗ 
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