Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

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nem Wesen, aber mein Wesen, d. h. die wesentliche Beschaffenheit mein er 
Individualität richtet sich nicht nach meinem Willen, wenn ich auch noch 
so sehr mich anstrenge und überbiete. Der Mensch kann allerdings, ob⸗ 
wohl sein Wesen sich nicht von seiner Zeit absondern läßt, wünschen: 
ach! wäre ich doch in Athen zur Zeit eines Phidias und Perikles gebo— 
en worden! Aber solche Wünsche sind nur phantastisch, und selbst sie 
sind bestimmt durch das Wesen der Zeit, in der ich geboren und gebildet 
wurde, bestimmt durch das Wesen, das ich bin und das ich selbst durch 
diese phantastische Versetzung an fremde Orte und Zeiten nicht ändere. 
Denn nur in einer Zeit, die Sinn und Verstand für das alte athenische 
Leben hat, und nur in einem Menschen, dessen eigenes Wesen sich zu 
jenem Leben und Wesen hingezogen fühlt, kann ein solcher Wunsch ent⸗ 
stehen. Und wenn ich mich auch wirklich in Gedanken nach Athen ver— 
setze, so falle ich dadurch nicht außer mein Jahrhundert, außer mein 
Wesen hinaus, was unmöglich; denn ich denke mir ja dieses Athen nur 
nach meinem Kopfe, nur im Sinne dieses meines Jahrhunderts; es ist 
nur ein Abbild meines eigenen Wesens, denn jede Zeit denkt sich die 
Vergangenheit nur nach sich. Kurz der Mensch ist das, was er ist, 
wesentlich ist, auch mit Willen; er kann sich nicht mit seinem Wesen 
entzweien; selbst seine in der Phantasie darüber hinausgehenden Wünsche 
sind durch dasselbe bestimmt, fallen immer, so weit sie sich scheinbar von 
demselben entfernen, auf dasselbe zuruͤck, wie der in die Höhe geschleu⸗ 
derte Stein auf die Erde. Also: so viel ich auch durch Selbstthätig— 
keit, durch meine Arbeit, durch Willensanstrengung bin, ich bin, was ich 
bin, geworden nur im Zusammenhang mit diesen Menschen, diesem 
Volke, diesem Orte, diesem Jahrhundert, dieser Natur, nur im Zusam⸗ 
menhang mit diesen Umgebungen, Verhältnissen, Umständen, Begeben— 
heiten, welche den Inhalt meiner Biographie bilden. Dies ist der einzige 
vernuͤnftige Sinn, der dem Glauben, daß der Mensch nicht sich, nicht 
seinem Verdienst, seiner eigenen Kraft allein, sondern Gott es zu ver— 
danken habe, was er ist und hat, zu Grunde liegt. Aber mit demselben
	        
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