Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

211 
Rechte als das Gute kommt auch nicht das Böse allein auf meine 
Rechnung; es ist nicht meine Schuld, wenigstens nicht allein meine, 
es ist auch die Schuld der Verhältnisse, die Schuld der Menschen, mit 
denen ich von Anfang an in Berührung stand, die Schuld der Zeit, in 
der ich geboren und gebildet wurde, daß ich diese Fehler, diese Schwä— 
chen habe. Wie jedes Jahrhundert seine eigenen Krankheiten, so hat 
es auch seine eigenen vorherrschenden Laster, d. h. vorherrschenden Nei— 
gungen zu Diesem oder Jenem, die an sich nicht schlecht, sondern nur 
durch ihr Uebergewicht, durch ihre Unterdrückung anderer, gleichberech— 
tigter Neigungen oder Triebe schlecht oder lasterhaft werden. Dadurch 
wird übrigens keineswegs die Freiheit des Menschen aufgehoben, wenig— 
stens die vernünftige, die in der Natur begründete, die Freiheit, die sich 
als Selbstthätigkeit, Arbeitsamkeit, Uebung, Bildung, Selbstbeherr— 
schung, Anstrengung, Bemühung äußert und bewährt; denn das Jahr⸗ 
hundert, die Umstände und Verhältnisse, die naturlichen Bedingnisse, 
unter denen ich geworden, sind keine Götter, keine allmächtigen Wesen. 
Die Natur überläßt vielmehr den Menschen sich selbst; sie hilft ihm 
nicht, wenn er sich nicht selbst hilft, sie läßt ihn untergehen, wenn er 
t nicht schwimmen kann, aber ein Gott läßt mich nicht im Wasser unter— 
sinken, wenn ich gleich nicht durch eigne Kraft und Kunst mich in ihm 
erhalten kann. Schon die Alten hatten das Sprüchwort: „wenn's 
Gott will, kannst du auch auf einer Binse schwimmen“. Selbst das 
Thier muß sich selbst seine Lebensmittel suchen, muß es sich höchst sauer 
werden lassen, muß alle ihm zu Gebote stehenden Kräfte anwenden, bis 
es seine Nahrung findet; wie muß sich oft die Raupe quälen, bis sie 
das ihr angemessene Blatt findet, wie der Vogel, bis er ein Insekt oder 
einen andern Vogel erhascht! Aber ein Gott überhebt die Menschen und 
atein selbst die Thiere der Selbstthätigkeit; denn er sorgt für sie; er ist das 
ih, uiht Thaätige; site sind nur das Leidende, das Empfangende. So brachten 
vr⸗ die Raben auf Befehl des Herrn dem Elia „Brot und Fleisch des Mor⸗ 
henselben gens und des Abends“. Aber „wer bereitet dem 2 Speise“? 
14
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.